Manafonistas

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2014 2 Nov.

Das heitere Parallellesen von “Bleeding Edge” (5)

von: Manafonistas Filed under: Blog | TB | 6 Comments

 
bleeding edge
 
 
 
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
„All work and no play makes Jack a dull boy.“
 

Wolfram G.

 

 

Maxine ermittelt in den Hamptons. Mit Hilfe der Zufallsbekanntschaft Randy („You can take your hand off my ass, however.“ – „My goodness, was I really –“), der es auf die Weinraritäten abgesehen, gelingt es ihr in Gabriel Ices Sommerresidenz („We call it Fuckingham Palace“, „modest ten bedroom“ mit Tennisplatz und Schwimmbad in „Olympic“ size) zu gelangen. Im Weinkeller stößt sie auf eine Tür, knackt den Zugangscode des Türöffners, und betritt einen langen Tunnel, der in das Innere einer stillgelegten Radaranlage führt, die im Kalten Krieg betrieben wurde. Je weiter sie kommt, desto unheimlicher wird es. Sie hört Flüstergeräusche, stark gestörten Funkverkehr, erkennt eine schemenhafte Gestalt und flüchtet zurück in den Weinkeller. Lester Traipse ist tot. Mord? Maxine gibt sich die Schuld, weil sie den Tunnel von Gabriel Ice gefunden hat, sieht ihn dann aber am nächsten Tag in Begleitung einer blonden Sexbombe („blond bombshell“). Trifft Conkling Speedwell („a freelance professional nose“), der hauptsächlich im Privatauftrag schnüffelt („smell my husband“) und geht mit ihm im Deseret schwimmen, wo auch die Leiche von Lester gefunden wurde, dem eine Messerklinge in den Schädel getrieben wurde. Alte KGB-Methode. Dashkov? Conkling schnüffelt den Tatort, nimmt eine Luftprobe und weist den Herrenduft „9:30“ nach, der vom sinistren Ex-CIA/NSA-Agenten Nicolas Windust benutzt wird. Maxine träumt von Azreal, dem Todesengel, gibt Eric Outfield einen Footjob und hat einen Quickie mit Windust, der ihr eine Akte überlässt. Schließlich wird ihr ein Video zugespielt, in dem ein Mann auf dem Dach des Deseret den Abschuss eines Flugzeugs mit einer Stinger probt.

Die Handlung schreitet flott voran, aber die Lesearbeit wird härter. Der 100-Seiten-Brocken ist ein zu großes Stück Kuchen – schmeckt eigentlich ganz wunderbar, ist aber mit jedem Bissen schwerer herunterzubekommen. Ich schwanke zwischen anhaltender Faszination (Private Nose Conkling Speedwell ist grandios) und zunehmendem Völlegefühl: Zu viele Personen, zu viele Abschweifungen, zu viele Anspielungen. Im Moment geht es mir wie Maxine: „Fress, Heidi, fress, please. I wasn´t as hungry as I thought.“

 
Thomas S.
 

 
Thomas P. – nicht Thomas Pynchon, sondern Thomas Piketty – weist in seinem jüngst in deutscher Sprache erschienenen Buch Das Kapital im 21.Jahrhundert Entwicklungslinien der Ungleichheit vom 19.Jahrhundert bis zur Gegenwart nach.
 
 
 

 
 
 
Dass die ungleiche Verteilung des Einkommens und des Vermögens immer beängstigendere Formen annimmt, wird uns ja immer wieder deutlich, wenn wir Zeitungsmeldungen wie diese lesen: Tim Cook, Apple-Nachfolger von Steve Jobs, bekommt dieses Jahr an Gehalt, Aktienoptionen und Gratifikationen zusammengerechnet 378 Millionen Dollar, das entspricht dem 6258-fachen des durchschnittlichen Jahresgehaltes eines Apple-Angestellten (SZ vom 08.10.2014).

Diese unfassbaren Ungleichheiten durchziehen auch das neue Buch von Thomas Pynchon wie ein roter Faden, so auch nachzulesen auf den Seiten 206-303. Wir haben es entweder mit extremem Reichtum zu tun – siehe das Sommeranwesen des Gabriel Ice (mit obligatorischem Tennisplatz, einem Swimmingpool mit „olympischen“ Abmessungen, aber dennoch eher für Ruderregatten als zum Schwimmen geeignet und einem Badehaus, das „in vielen weiter westlich gelegenen Inselorten … als Residenz für eine ganze Familie gereicht hätte“), oder mit bitterer Armut (…“rauchgeschwärtze und verwahrloste Gebäude, aufgegebene Bruchbuden und ausgebrannte Betonfundamente …“).

Pynchon beschreibt auf der einen Seite herrliche Landstriche, dass … „das Herz des Bauunternehmers jubilieren lässt: `Dies Land ist mein Land, und dies ist auch mein Land´, wie ganz anders hat das damals Woody Guthrie gemeint, auf der anderen Seite Mülllandschaften, turmhohe, stinkende Müllberge. Und immer wieder die GIER!

Meine Güte, und es geht auf diesen Seiten so richtig intensiv um Musik. Wir erfahren, dass unsere Maxine liebend gerne anständige Autofahrmusik hört, früher stellte sie meistens WYNY ein, einen Country-Sender, der jetzt aber auf Classic-Disco umgestellt habe, dann aber hört sie plötzlich auf einem Countrysender aus Connecticut Middletown New York von Slade May Goodnight. Leider gibt es weder das Lied, dessen Text im Buch sogar abgedruckt ist, noch die Sängerin wirklich. Pynchon-wiki stellt schlicht fest: Fictional country singer!

Okay, was ist mit Droolin Floyd, von dem später die Rede ist? Immerhin, meine Suche nach diesem Musiker führt mich auf die Seite https://biblioklept.org/2009/08/11/the-music-of-pynchons-inherent-vice/, auf der alle Musikstücke, die in Pynchons Roman Inherent Vice vorkommen, gelistet sind, auch ein Stück mit dem Titel „Repossess Man“ by Droolin’ Floyd Womack. Später ist dann noch von einem `Madolinen-Bottleneck-Sound` die Rede. Nicht so ganz einfach, was hier wohl gemeint ist. Es gibt einen Gitarristen namens John Bottleneck, einen Gitarristen Stefan Grossmann der eine wunderschöne Bottleneck Serenade aufgenommen hat und schließlich einen Musiker Sam Bush mit Namen, erspielt die Slide Mandoline (oder Bottleneck Mandoline).

Auf der CD Glamour & Grits von 1996 spielt er auf dem Stück Watson Allman genau diese Mandoline. Eine Seite später wird getanzt und zwar die platzsparende Variante eines Bachata. Hier ist wiederum Pynchon-wiki hilfreich: „Bachata is an Afro latino genre of music that originated in the Dominican Republic in the early parts of the 20th … It became popular in the countryside and the rural neighborhoods of the Dominican Republic. Its subjects are often romantic; especially prevalent are tales of heartbreak and sadness. In fact, the original term used to name the genre was amargue („bitterness“, or „bitter music“), until the rather ambiguous (and mood-neutral) term bachata became popular. The form of dance, Bachata, also developed with the music.“

Respekt, Thomas Pynchon, was man aus Ihren Büchern alles lernen kann … Übrigens, über Musik könnte man von diesem 100-Seiten-Pack ausgehend noch viel mehr schreiben, ich habe mich bewusst beschränkt (..okay, ich gebe es zu, Dancing Queen oder More Than a Feeling, das sind auch nicht gerade so meine Titel und Karaoke schon gar nicht…). Aber jetzt: Köstliches steht dem Leser bevor, ganz Köstliches. Zunächst – S.254 – gibt es einen Toten (nichts wird verraten!) und dann geht es los, dann zeigt Pynchon mal wieder, was er drauf hat. Ohne inhaltlich etwas zu verraten: Maxine hat einmal mehr einen Termin bei ihrem Mr Shawn und überzieht ihre Stunde, überzieht so sehr, dass der nachfolgende Klient mit seiner Stunde davon betroffen ist.

Das geht ja nun mal überhaupt gar nicht! Maxine entschuldigt sich und denkt, damit sei die Sache wohl erledigt. Nur, leider antwortet der nachfolgende Klient, Conkling Speedwell mit Namen, dass sie ihn ja mal zum Mittagessen einladen könne. Aus diesem „mal“ wird ein „heute um ein Uhr“. Und nun nehmen die Dinge ihren Lauf. Conkling stellt sich als ein freiberuflicher Riecher vor. Seine Nase riecht dermaßen gut, dass selbst Hunde vor Neid erblassen. Es stellt sich beim gemeinsamen Mittagessen heraus, dass Speedwell so etwas wie eine Detektei betreibt, ein echter Schnüffler also, der sich 90% mit Scheidungssachen herumquält. „Na, die kommen und sagen: `Riechen Sie mal an meinem Mann, an meiner Frau, und sagen Sie mir, mit wem sie zusammen waren, was sie zu Mittag gegessen haben und wie wie viele Drinks es gab, ob sie Drogen nehmen, ob Oralsex stattfand … und so weiter.“

Vollkommen Verrücktes erfahren wir über diesen professionellen Riecher, das ist so gut geschrieben, zum Brüllen witzig, das macht richtig Spaß. Der Leser erfährt zum Beispiel, dass das menschliche Geruchsvermögen im Durchschnitt um 11:45 Uhr am leistungsfähigsten ist. Wow, was Pynchon alles weiß! Einmal ist Maxine vollkommen verblüfft, weil Conkling Luminol riechen kann: „Moment mal, Sie können Luminol riechen? Ist das nicht angeblich geruchlos?“ „Ach was. Anklänge an Bleistiftspäne und Hibiskus, zarte Noten von Schweröl und Mayonaise – „. Und damit hat Pynchon den Weinkennern mal so richtig eingeschenkt!

 

P.S. SO SCHADE, dass Michael nicht mehr dabei ist!!!

 
Gregor M.
 

 

Am besten finde ich an Bleeding Edge Sprache und Grundstimmung. Die Personen mag ich auch, nur kann ich sie nicht richtig ernst nehmen, sie sind mir (noch?) zu offensichtlich ausgedacht. Zur Handlung kann ich kaum etwas sagen, deren Spuren gehen für mich in dem Textdickicht verloren. Deswegen kopiere ich diese Woche „nur“ Lieblingszitate von 207 – 304:

 

„… Shorts, kürzer als ein Kiffergedächtnis …“,

„Sid ist Studio-54-Veteran. Dort hat er als Toilettenmann gearbeitet und in den Arbeitspausen getanzt, und nach Schichtende hat er, bevor die anderen Angestellten dazu kamen, die zusammengerollten 100-Dollar-Scheine aufgesammelt, mit denen irgendwelche Gäste sich das Koks reingezogen hatten, auch wenn er selbst als Einmallöffelchen die Filterhülsen von Parliament-Zigaretten bevorzugte.“

„… das gigantische, mit funkelnden Lichtgardinen behängte World Trade Center …“

„Die Sucht nach Öl konvergiert nach und nach mit der anderen schlechten Angewohnheit der Nation: der Unfähigkeit, mit Abfall umzugehen.“

„Ganz gleich, welche menschlichen Zugvögel sich dort unten aufhalten und auf die Unverletzlichkeit dieses Fleckchens vertrauen – sie werden eines nicht mehr allzu fernen Morgens grausam überrascht werden vom wispernden Herabschweben konzerneigener Webcrawler, die darauf brennen, ein weiteres Refugium für ihr ganz und gar nicht selbstlosen Zwecke zu indizieren und zu ruinieren.“

Die Videokassette „liegt auf dem Küchentisch, als hätte Plastik plötzlich herausgefunden, wie es vorwurfsvoll aussehen kann.“

„Improvisationstheater! Ja, sie erfinden den Text und sagen ihn auf, und zwar mit der Art von Intonation, die Leiter von Highschool-Schauspieltruppen in den Drogenmissbrauch treibt.“

„Es scheint sich um die tiefe datumslose Leere nach den Feiertagen zu handeln.“

Das „universale Leitprinzip der Reichen: Die Großen kriegen Geld, die Kleinen einen Tritt in den Hintern.“

„Irgendwie endet doch alles früher oder später als Broadway-Musical.“

Maxine „sieht aus dem Fenster, späht mit zusammengekniffenen Augen über die Dächer, Ventilatoren, Oberlichter, Wassertanks und Simse, die im fahlen Licht unter dem sich verdunkelnden Himmel glänzen, als wären sie bereits nass, zu dem am Broadway aufragenden verfluchten Deseret, in dem schon ein paar gewitterängstliche Lichter eingeschaltet sind und dessen Mauern aus dieser Entfernung so dunkel wirken, als könnten sie nie ganz gereinigt werden, als wären sie ein Bollwerk aus Schatten.“

„… ein absichtsloser Händedruck …“

„Wenn Sie daran riechen verwandelt sich ihr Hirn nämlich in roten Wackelpudding. Nein, mit einem Naser ist nicht zu spaßen.“

„Conkling hat noch immer einen Ständer, zögert aber, ihn ins Spiel zu bringen – als wäre es ein Stück Hardware, deren Bedienungsanleitung er verloren hat.“

„… ist (Tallis) die reine oder die dämliche Unschuld?“

„`Lassen Sie sich von der familiären Atmosphäre hier nicht täuschen – ich kenne nicht jeden meiner Stammgäste mit Namen. Oder vielmehr doch, aber es ist immer derselbe: Versager.´“

„Von unten dringen romantische Streicherklänge herauf, von denen Maxine dachte, sie seien schon in den Siebzigern in Rente geschickt worden, und die heute Abend auch nicht verlockender klingen als damals.“

„Sie nimmt seine Karte, die sie eines Tages vielleicht noch mal wird brauchen können, wenn auch im Augenblick niemand weiß, wofür.“

„`Entschuldige, aber ist das irgendeine eklige Hautkrankheit?´ `Das? Nein, das ist ein Designerkondom aus der Kollektion Abstrakte Expressionisten von Trojan, glaube ich.´“

„Sie ist Präosmikerin, das heißt, sie kann Dinge riechen, die erst noch geschehen werden. … Sie sagt, niemand hat so etwas je gerochen, es ist eine toxische Mischung, bitter, indolisch, ätzend, `als würde man Nägel einatmen´, sagt sie. Firmeneigene Moleküle, synthetische Stoffe, Legierungen, allesamt einer heftigen Oxidation ausgesetzt. … Sie verlässt die Stadt. Und sagt allen, die sie kennt, sie sollen dasselbe tun.“
 
Olaf W.
 

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6 Comments

  1. Olaf:

    Wirklich schade, dass Michael nicht mehr dabei ist! Und was ist mit Wolfram?!

    Ich bin auch fasziniert von der Wissensfülle dieses Buches. Ausserdem wundere ich mich sehr über das Gehalt von Herrn Cook. Sicherlich auch eine Stärke von Bleeding Edge, wie viele Tendenzen des westlichen Kapitalismus hier (wie) in der Entstehung gezeigt werden …

  2. Michael Engelbrecht:

    Auf jeden Fall werde ich diesen Satz irgendwann mal leicht abgewandelt in meine Nachtsendung schmuggeln:

    “Von unten dringen romantische Streicherklänge herauf, von denen Maxine dachte, sie seien schon in den Siebzigern in Rente geschickt worden, und die heute Abend auch nicht verlockender klingen als damals.”

  3. Olaf:

    Das wird eine gute Moderation – zu welcher Musik wohl?!
    Mein Favorit aus den Parallellesen ist (neben dem Jahreseinkommen von Herrn Cook):
    „Fress, Heidi, fress, please. I wasn’t as hungry as I thought.“ Vielleicht hätte ich „Bleeding Edge“ doch auf Englisch lesen sollen.

  4. Michael Engelbrecht:

    Nur aus reiner Neugier, Wolfram, bist du raus, oder machst du jetzt die 200-Seiten-Runde, und hast dich mit einem kryptischen Text in die nächste Runde gerettet. Wäre okay :)

  5. Wolfram:

    Ich bin noch drin! Der Satz gibt meine Befindlichkeit beim Schreiben des Textes über die anstehenden 100 Seiten des Romans annäherndst wieder. Die Auflösung kommt im nächsten Beitrag, so hoffe ich. Vorweg: der Satz stammt aus dem Film Shining. Jack Torrance alias Jack Nicholson schreibt ihn Tausende mal in seinem vorgeblichen Romanmanuskript nieder, Vorbote des Wahnsinns. Ganz so schlimm ist es bei mir noch nicht.

  6. Thomas:

    Schön, dass Wolfram weiter mit dabei ist. Michaels Entscheidung auszusteigen, kann ich gut verstehen. Man sollte genau abwägen, wofür man seine Zeit verwendet oder verschwendet. Trotz aller Faszination, bei Pynchon ist das eine Gratwanderung. Was das Lesen im Original angeht, glaube ich, dass wir wirklich zwei unterschiedliche Bücher lesen. Maxine englisch kommt anders rüber als Maxine deutsch. Der zusätzliche Filter der Übersetzung lässt ein anderes Buch entstehen – eine Cover-Version eben. Es wäre ja schon einmal sehr interessant, beide Fassungen intensiv zu lesen.


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