Eine herrliche Beschreibung der Residenz der Familie Ice gelingt Pynchon auf diesen Seiten. Am besten gefällt mir diese Bemerkung: „In der Ecke steht ein Bösendorfer Imperial, an dem Generationen von Mietpianisten stundenlang Kander & Ebb, Rogers & Hammerstein sowie Andrew-Lloyd-Webber-Medleys gespielt haben, während Gabe, Tallilis und ein paar Handlanger die Gäste bearbeiteten und die Scheckhefte der East-Side-Aristos ein wenig dünner werden ließen …“.
Ja, das sind solche Textstellen, die nur Pynchon so hinbekommt. Übrigens, der Bösendorfer Imperial ist das Flaggschiff der Wiener Klavierfabrik, der erste Prototyp wurde bereits 1909 gebaut, ein phantastisches Instrument, hat allerdings seinen Preis, um die 152.000,00 € muss man heute hinblättern. Okay, und auf diesem Instrument werden nun Kander & Ebb, Rogers & Hammerstein sowie Andrew-Lloyd-Webber-Medleys gespielt. Bedenkt man, dass Komponisten wie Ravel, Bartók oder Debussy dieses Instrument geliebt haben und von ihm zu Kompositionen inspiriert wurden, kann man ermessen, wie treffend der Autor das Haus der schwerreichen Familie Ice hier beschreibt.
Weitere Höhepunkte der Lektüre von Bleeding Edge: „Ihr Ehevertrag hat mehr Zusatzklauseln als der Versailler Vertrag. Sie (gemeint ist die Ehefrau von Gabriel Ice, Tallis) ist praktisch Ice´ Besitz.“ Oder: „Die bisher glanzlose Saison einer Mannschaft, die nicht einmal beim Münzwurf um den Anstoß gewinnen konnte.“ Ernsthafter jetzt: Während eines Gesprächs zwischen Maxine und Ice denkt Maxine, dass sie eigentlich jetzt Folgendes sagen müsse: „Bei Ihren erstklassigen Beziehungen? Wer in der großen weiten zivilisierten Welt sollte Sie schon für etwas verantwortlich machen?“
Damit, so denkt sie weiter, würde sie aber zugeben, dass sie mehr wisse, als sie sollte. Also sagt Maxine etwas vollkommen anderes. In der amerikanischen Literatur hat es ein Autor, was die Unterscheidung dessen angeht, was ein Mensch denkt und dann aber schließlich sagt, zur Meisterschaft gebracht: Ich denke an den Literaturnobelpreisträger von 1936 Eugene O`Neil. In seinem Drama Seltsames Zwischenspiel (zuweilen auch Seltsames Intermezzo genannt) sprechen die Schauspieler etwa zwei Drittel ihres Textes in Monolog- und Dialogsprache, das letzte Drittel wird als gedachter Text gesprochen. Absolut faszinierend, die Differenz zwischen gedachten und gesprochenem Text mitzuerleben.
Eine weitere Assoziation: Einmal betritt Maxine ein Haus, dessen Aufzüge entweder blockieren oder anfangen zu spuken oder die Insassen in eine „Richtung lenken, die vielleicht eine Art karmischen Ausgleich verspricht.“ Auch das, eine sehr schöne Textstelle, die mich an eine der vielen überaus fruchtbaren Zusammenarbeiten zwischen Heiner Goebbels und Heiner Müller erinnert: Der Mann im Fahrstuhl heißt das Stück, das damit endet, dass der Mann im Fahrstuhl nicht, wie gewünscht, zum Stockwerk seiner Wünsche gebracht wird – hier hätte er einen Termin bei seinem Chef gehabt – sondern in Peru landet.
(Gregor M.)
Geht gleich gut los. Ein Gespräch mit der Frau von Ice und Tochter von March wird angekündigt, vorher noch schnell zum Emotherapeuten Shawn, dann empfängt Tallis Maxine in ihrer luxuriösen Residenz. Es bleibt verwirrend; war ich naiv mich schon nach knapp 100 Seiten darüber zu beklagen – wir lesen schließlich einen Pynchon Roman?! Tragisch, wie sich March nach ihrer Tochter sehnt, wie Ice und Tallis ihren Kennedy hochzüchten, wie dessen ultralinke Oma rare Pokémon Karten für ihn besorgt und sich gleichzeitig eine harte Schale überzieht (Pokémon – „Irgendein westindischer Proktologe, oder was?“).
Weiter im Protokoll: Horst hat einen Ben & Jerry’s Turkey, zack: Marvin der Radkurier kommt aus dem Nichts mit Nachschub und hat auch gleich noch eine VHS für Maxine dabei. Die bringt Horst und die Jungs zum Flughafen – die drei wollen in den Mittleren Westen, Horsts Heimat. (Mir werden sie fehlen). Kurzes Intermezzo vor dem Fernseher, dann tritt erstmals der Bösewicht Ice auf – Geplänkel am Telefon. Treffen mit Rocky und drei mafiösen Russen im Diner (Mischa und Grischa sind kurios), Maxines Expertise ist gefragt.
In einem Zwischengeschoß des Deseret (man kommt „sich vor wie in einem asiatischen Horrorfilm“) trifft Maxi den völlig paranoiden Reg. Einige Einträge in den Dateien von hashslingrz bringen Maxine nun auf die Spur des Glaskabelanbieters Darklinear Solutions. Vor deren Gebäude entdeckt sie Tallis, folgt ihr heimlich (mit einem lustigen Taxifahrer) und sieht, wie diese zu einem unbekannten Mann in einen Riesen-SUV steigt.
Nach einigen Blocks erfährt Maxine in einem luxuriösen Wohnhaus den Namen von dem mysteriösen Freund (uns wird jedoch zunächst nicht näheres mitgeteilt). Dann trifft sie sich mit Rocky („… polieren Sie einfach ein paar Powerballaden aus den Achtzigern auf und kommen Sie um neun …“) und einigen anderen in einer hochgradig skurrilen koreanischen Karaoke Bar („I left my brains down in Africa.“). Felix ist dabei, der tauchte ja schon einmal auf. Sein Partner (?) Lester gibt Maxine einen kleinen Einblick in Teile der Geschäfte von hashslingrz’ (Aufkaufen von Internet Infrastruktur) und den paranoiden Charakter von Ice.
Alles klar?! Ziemlich viele Fäden, die gesponnen, aber zunächst nicht weiterverfolgt werden.
Eines meiner Lieblingszitate aus diesem Abschnitt von Reg: „Wenn Du wissen willst, wie die Zukunft des Films aussieht: immer größere Übertragungsraten, immer mehr Videodateien im Internet, irgendwann ist es dann so weit, dass alle alles filmen – viel zu viel, um es sich anzusehen, und nichts davon wird mehr irgendwas bedeuten.“
(Olaf. W.)
Maxines Ex Horst ist mit den Kindern auf „Grand Tour“ nach Chicago und Iowa zu den Großeltern. Maxine nutzt die neue Freiheit jetzt rund um die Uhr, um Gabriel Ice auf die Schliche zu kommen und dessen mysteriöse finanzielle Transaktionen aufzudecken.
Dabei fällt es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Rocky Slagiatt (wer war das nochmal?) führt Maxine mit dem Igor Dashkov zusammen, der von seinen „Torpedos“ Misha und Grisha begleitet wird, die dann doch lieber Deimos und Phobos genannt werden möchten und Fans des russischen Rasta-Rap-Stars Detsl sind. Maxine gibt Igor und seinen Freunden („He’s mob, or what?“) den guten Rat, schnellstmöglich aus dem Schneeballsystem von Bernie Madoff auszusteigen, was diese tun, damit viel Geld sparen („a shitload of money“) und Maxine später reich entlohnen.
Reg (ja, das ist Flimemacher, der die Ice-Geschichte in Gang gebracht hat) taucht wieder auf. Ice hat ihn gefeuert, sein Appartment ist geplündert, sämtliches Filmmaterial ist weg und er orakelt „If a dotcom had an immortal soul (…) hashslingrz’s’d be lost“. Wie sich herausstellt, ist March mit Igor befreundet, der wiederum ein Kumpel von Marchs Ex-Mann Sid ist, der mit seinem Vintage-Boot („1937 Gar Wood“) illegale Botendienste übernimmt. Und das ist nur die Spitze des Personal-Eisbergs!
Und es fällt auch nicht leicht, Schritt zu halten. Maxine stürmt von einem Event zum nächsten: Sie verfolgt Tallis (ja, das ist die Frau von Gabriel Ice und Tochter von March und Sid) mit dem Taxi quer durch New York, singt mit Rocky und seinen Freunden Karaoke in einer koreanischen Noraebang-Bar („Oh and wear somethin schlumpy, don’t want you upstaging Cornelia“), tanzt mit March und Sid in Chuy’s Hideaway, flieht auf dem Wasser mit den beiden in Sids Gar Wood („Not again, Sid“) vor den Booten der Drogenfahnder der DEA erfolgreich zur New Yorker Müllinsel Island of Meadows (die für sie eine Analogie zu DeepArcher ist), fährt mit dem Bus zurück nach York und identifiziert den zwielichtigen Programmierer Vip Epperdew und Teile seiner Kreditkartennummern in einem recht abstoßenden „homeporn video“ („Vip is years overdue for some gym time“).
Mit seinen vielen Figuren und der eng gedrängten Handlung zwingt Pynchon zur Konzentration. Belohnt wird diese auch hier mit großem Lesespaß. Die Episode in der koreanischen Karaoke-Bar „Lucky 18“ ist absurd komisch: Programmierer prügeln sich zu den Klängen von „September“, „Volare“ und „Africa“ („Spud, I don’t think it’s ´I left my brains down in Africa´“) auf dem Männerklo um HTML-Techniken (Tabellen gegen CSS), Cornelia reduziert Maxines jüdische Herkunft auf den Instinkt für Sonderangebote („gift for finding bargains“) und ein koreanischer Gast diskutiert mit Maxine über die „18“ im Namen der Bar („Bad number … means ‚sell pussy’“). Ich habe mich jedenfalls köstlich amüsiert.
Gleichzeitig bringt Pynchon (ich tippe aus Versehen immer wieder „Python“, aber hier würde das auch passen) ganz beiläufig immer wieder „ernste“ Themen unter: Das finanzielle und personelle Engagement der USA beim Genozid in Guatemala, Korruption und Bodenspekulation am Beispiel der Island of Meadows („This Land Is My Land, This Land Is Also My Land“), die Schattenseiten der Gentrifizierung in Harlem. Und auch das World Trade Center ist während der nächlichen Bootsfahrt hell erleuchtet.
(Thomas S.)
Das Parallellesen macht Spaß. Ich bin jede Woche neugierig auf die verschiedenen Kommentare. Eigentlich macht das Kommentareparallellesen den meisten Spaß, und so hoffe ich, dass alle Teilnehmer dabei bleiben. Zumal ja inzwischen die Geschichte tatsächlich etwas in Schwung kommt: Maxine trifft nacheinander die gesamte Familie des konstruierten Bösewichts Ice, der ein bisschen drohen darf und vielleicht hinter durchwühlten Zimmern steckt. Außerdem gibt es eine Verfolgungsjagd im Taxi sowie ein noraebang. Dieser Begriff wird immerhin erklärt: so heißen in Korea die Karaoke-Lokale. Und in die koreanischen Karaoke-Lokale in New York gehen nicht nur die „Nonnen der Lüfte“, wie Pynchon die Stewardessen nennt, sondern vor allem die jungen Heuschrecken-Kapitalisten – sofern sie nicht Hausverbot haben wegen zu vieler die Korrektursoftware überfordernder falscher Töne. Die Karaoke-Szene ist recht nett beschrieben, einschließlich des Streits zwischen „CSS-Nazi“ und „HTML-Freak“. Vielleicht ging es ja wirklich so zu in den Kindertagen des Internets; aber seitdem ich entdeckt habe, dass Pynchon den Begriff „Ödipuskomplex“ falsch benutzt hat, bin ich vorsichtig. Was ist, wenn er andere Dinge aus Bereichen, wo ich mich weniger als in Psychoanalyse oder gar nicht auskenne, auch nur so behauptet? Manchmal begibt sich Pynchon ganz offen in Fantasiegefilde – etwa wenn er Marvin auftreten läßt, der außer Pizza genau das liefert, was Maxine gerade dringend braucht: erahnt mit Hilfe „hanfinduzierter Teleportation“. Und auch im „Schwarzen Aufzug“ geht es geheimnisvoll zu. Man ist nicht selbst der Bestimmer; wo sich die Tür öffnet, bleibt eine Überraschung. Die Szene hat mich an das Hörspiel von Heiner Müller und Heiner Goebbels erinnert: „Der Mann im Fahrstuhl“. Er ist ein sehr ordentlicher, rationaler Mensch, und erschrickt, als sich die Aufzugstür in eine weite Landschaft in Peru öffnet. Ein wesentlicher, oft wiederholter Satz in diesem Hörspiel lautet: „Fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre Pünktlichkeit“. Es wird Zeit, meinen Text abzuliefern!
(Wolfram G.)
Ich bin raus. Ich habe nicht mal mehr die nächsten fünfzig Seiten in Angriff genommen. Es wirkt bei mir nicht nach, das Lesen war für mich wie das Bedienen einer Mikrowelle. Schnell erhitzt, rasch erkaltet. Ich ziehe „Das Dickicht“ von Joe R. Lansdale vor, gewiss auch das raffiniert-verstörende Werk „Lebt“ von Orkun Ertener. Solche Bücher. Wenn das Schönste beim Lesen eines Buches darin besteht, zu erfahren, was ein paar andere im virtuellen Lesekreis dazu vermelden, spricht das ja nicht für das Buch, immerhin für die Idee des Projekts. Dass mein Hund gerade wieder mal antibiotisch saniert werden muss, kümmert mich mehr, als der virtuos-burlesk dokumentierte Irrsinn Amerikas zu Zeiten der geplatzten Dot-Com-Blase und des frühen Internets. Ein paar unlustige Dinge kommen dazu (privat), und verlangen jetzt etwas mehr Konzentration auf das Wesentliche. So konnte ich diese Woche immerhin die Entdeckung machen, dass „Longmire Season 3“ brilliant ist. Mark Twain ist mir sowieso immer näher gewesen als die meisten Postmodernisten. Und dazu stehe ich. Hat einer von euch schon mal das Meisterwerk von Lionel Davidson gelesen? Grosser Spionagethriller aus alter Zeit. „Der Rabe“. Highly recommended. Die Welt ist voller hinreissender unbekannter Bücher. Und wenn ich je ausgewählte Klassiker der Weltliteratur ein zweites Mal lesen wollte, es kämen neben „Huckleberry Finn“ und „Rayuela“ nur „Jeder stirbt für sich allein“ und „Don Quichote“ in Frage. Thomas Pynchon lässt seine Protagonisten auch gegen Windmühlen kämpfen. Immerhin eine schöne Parallele. Aber, naja, auch in Woody Allen-Filmen wird oft zuviel gequasselt. Und witzig finde ich seine Filme seit 1982 auch nicht mehr. Nicht mal die witzigen. Wirklich ans Herz ging mir rückblickend nur „Manhattan“. Und, Jungs, jetzt kommen die 100-Seiten-Strecken! Ich werde aber alles weiter verfolgen hier, bis zum womöglich „letzten Mohikaner“. :)
(Michael E.)