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2014 12 Okt

Das heitere Parallellesen von “Bleeding Edge” (2)

von: Manafonistas Filed under: Blog | TB | 6 Comments

 
bleeding edge
 
 
 

Auch mal schön, wenn man bei Google etwas eingibt und nur einen Treffer erhält und nicht wieder Millionen, mit denen nichts anzufangen ist – www.hwmhcuhw.com führt einen nur auf das Buch Bleeding Edge, dessen zweiter Teil des heiteren Parallellesens heute ansteht. Auf jeden Fall ist unsere Heldin, Maxine, auf dem Weg, diese eigentlich in Konkurs geratene Firma hwmhcuhw.com zu besuchen. Um dorthin zu gelangen, muss man „durch die labyrinthischen, sinistren Kloaken der Gier“, die unter sämtlichen Immobiliengeschäften in dieser Stadt verlaufen, hindurch. In den fast leeren Räumen der Firma angekommen, vernimmt Maxine eine Neunziger-Jahre-Hymne – „sinnnfreien Gedaddels am Arbeitsplatz“. Es handelt sich um Korobuschka – oh, never heard this music.

Bei Spotify bekomme ich sieben Versionen dieses russischen Folksongs aufgetischt, von André Krylov bis Helene Fischer. Es scheint eine Verfolgungsjagd zu beginnen, dessen Zielperson Maxine ist, so, mehr wird vom Verlauf der Handlung nicht verraten. Auf einer Fahrt durch die Stadt wird Maxine übel „bei dem Gedanken, es könnte irgendeinen verblödeten Konsens darüber geben, wie das Leben zu sein hat, und dieser könnte sich der ganzen Stadt gnadenlos bemächtigen, eine immer engere Schlinge des Schreckens aus Multiplexen, Shoppingcenters und riesigen Geschäften, wo man nur einkauft, wenn man einen Wagen und ein Haus im Vorort mit Einfahrt und Garage hat.“

Wie recht Pynchon hat mit dem, was er seiner Protagonistin hier sagen lässt. Mir wird auch immer kotzübel, wenn ich mich zum Beispiel in Frankreich genötigt sehe, in einen dieser E.Leclercs, Hyper Us, Super Us, Intermarchés, Carrefours, Auchans & Co zu gehen. Allein schon die palast- und tempelhaften Architektur dieser Märkte, in die die Menschen mit riesigen Einkaufswagen hineinströmen und turmhoch bepackt wieder herauskommen. Wie ausgestorben dagegen die Einkaufsstraßen mittelgroßer Städte, hier das kleine Fischgeschäft mit dem netten Verkäufer, der grinsend mein stockendes Französisch kommentiert, geschlossen nun, dicht auch der Gemüseladen … aber das ist eine andere Geschichte.

Auf Seite 89 bekommt der Leser ein weiteres Mal Einblick in die Musikwelt des Autors, das Handy eines gewisssen Rocky läutet mit dem Klingelton von „Una furtiva lagrima“, von diesem Giacomo-Puccini-Stücke gibt es Versionen ohne Zahl, welche Rocky ausgewählt hat, erfahren wir nicht. Im Kapitel sieben begleiten wir Maxine bei ihrem ersten Besuch im von Justin und Lucas entwickeltem DeepArcher: Kein Spiel, kein Spurenhinterlassen, jeder macht mit und verschwindet sogleich …

„Justin wollte in der Zeit zurückreisen in ein Kalifornien, das es nie gegeben hatte: ungefährlich und mit stets blauem Himmel, wo es nur Abend wurde, wenn jemand einen romatischen Sonnenuntergang sehen wollte. Lucas dagegen schwebte etwas, man könnte sagen Dunkleres vor, ein Ort, wo es viel regnete und Perioden von großer, von den Kräften der Zerstörung erfüllter Stille hereinbrachen wie der Wind. Die Synthese von beidem war DeepArcher.“

Und ab geht’s in die Tiefe.

(Gregor M.)

 

 

Maxine Tarnow beherrscht ihren Job als Betrugsermittlerin so gut, dass sie insgeheim weiss: wenn man zu den Guten zählt, zahlt man am Ende drauf – da hilft es auch wenig, sich in einer virtuellen Lounge rumzutreiben, wo man seltsam vertrauten Gesichtern begegnet. Die verblüffendsten Spukhäuser trifft sie sowieso vis-a-vis. Und in der gepenstischen Leere reicht es durchaus, wenn ein anderes weibliches Wesen „Scheisse“ ruft. Da ist man gleich per Du. Die Dot-Com-Blase platzt, aber einige der ganz schlimmen Gierschlünde machen immer noch Profit: wenn man „Gabriel Ice“ heisst, steht man fast schon unter Unartenschutz.

Und so gerät man auch zwischen den Seiten 57 und 107 weiter in den typischen Pynchon-Sog: reale Historie wird einem da farbig um die Ohren gehauen, und wenn man liest, wie dieser elende Hochkulturtempel, das Lincoln Center, auch nur entstehen konnte, nachdem man 7000 Boricua-Familien vertrieben hatte und ein ganzes Viertel abgerissen – da wird man dann doch wieder etwas sauer auf diesen reaktionören Jazzschwafelkopf Wynton Marsalis, und möchte ihn in eine Zeitschleife schicken, und als Roadie die Koffer tragen lassen vom „elektrischen Miles“ (und insgeheim hoffen, dass Elektroschocktherapie doch etwas Gutes haben könnte).

Ich mag Maxine, und bin ihr jetzt erst mal bis in die Zentrale von Deep Archer gefolgt: eine perfekte Form von Samsara und schönem Schein. Another Multi-Coloured World? Im Grau des Netzes verschwindet alles. Das ist in langen Zeitläuften und „sozialen Netzen“ alter Schule auch so. Wahrscheinlich lösen sich deshalb manche Protagonisten bei Pynchon mitunter einfach in Luft auf, um dann vielleicht nach dreihundert Seiten oder vier Bücher später wieder aufzutauchen.

(Michael E.)

 

 

Es ist gar nicht so einfach, genügend Selbstdisziplin aufzubringen, und nicht über die Seite 107 hinaus weiter zu lesen – zumal der Roman allmählich Fahrt aufnimmt.

Wie gesagt: allmählich! Spannung erhöhende Szenenwechsel und kunstvoll verwobene Handlungsstränge – wie z.B. bei Tom Wolfe – sind offensichtlich nicht Pynchons Anliegen. Für witzige Nebensächlichkeiten und skurrile Szenen ist er jederzeit bereit, Tempo und Stringenz zu opfern. Situationen wie die folgende sind völlig unwichtig; man ist trotzdem dankbar dafür, weil es einfach zu komisch ist, wie Maxines Besuch bei einer Venture-Capital-Gesellschaft beginnt:

„Ahh! Wolle Sie was-e zum Es-sen? Wie wär-se mit-e diese Paprika-Ei-Sandewitsch?“

„Danke, aber ich habe gerade -„

„Paprika-Ei-Sandewitsch von meine Mama.“

„… Meinen Sie: nach dem Rezept Ihrer Mutter? Oder ist es ihr, wie soll ich sagen, persönliches Paprika-Ei-Sandwich, das sie auf die Anrichte da gelegt hat anstatt in den Kühlschrank, wo es hingehört?“

Nebensächlich – wie die Beschreibung einer besonders enzymreichen Gesichtsmaske aus dem Fleisch frisch geschlachteter Hähnchen oder die Diskussion über Jennifer Anistons Haarsträhnchen. Es sind diese Nebensächlichkeiten, die das Buch zu einer Enzyklopädie der Pop-Kultur (wo habe ich das nur gelesen?) machen. Ansonsten würde ich es heute mit Gewissheit einem Genre zuordnen: rückblickend auf die Millenniumszeit geschrieben liest sich die Reise in das jugendliche Internet und den Cyberspace wie ein Science-Fiction, der freilich die gegenwärtige Realität nicht mehr einzuholen vermag.

(Wolfram G.)

 

 

Diese ewigen Verweise, die doppelten Böden, die Vergleiche – manchmal nervt mich das zwischen den Zeilen verpackte Wissen auch. Geschmunzelt habe ich zum Beispiel über die „Gumbas des Webdesigns, man muss sie in den Boden stampfen, sobald sie irgendwo auftauchen …“, gemeint sind Pop-Up Fenster. Genauso über enzyklopädische Dialoge, zum Teil in Songzeilen („Auch wenn hashslingrz Leute anheuert als wär’s 1999″) – „Spaß ohne Ende“.

Ich erinnere mich jedoch, was mich bei meinen bisherigen Pynchon Versuchen gestört hat: mich berührt das alles eher wenig. Die Personen sind mir momentan ein bisschen zu ausgedacht, die Handlung ist so im Verweisdickicht versteckt, dass sie mich kalt lässt. Zum Glück gibt es lustige Szenen ( „Heute mal unsere Frischfleischmaske, Miss Loeffler?“ (laut gelacht!) ), das Buch ist gut geschrieben. Und: irgendwie mag ich dieses ganze Verweisgewitter, die Wissensangeberei, das Klugscheißertum. Es macht mich leicht schwindlig – vielleicht ja auch gar nicht so schlecht für einen Roman.

Pynchon selbst weiß genau was er tut: „Sich konstruktiv zu verirren ist Teil der Erfahrung“, versichert eine Dialogbox in der DeepArcher Lounge. „Es ist ein unsichtbarer, sich selbst verschlüsselnder Pfad, der nicht zurückverfolgt werden kann.“ heißt es an anderer Stelle – so wie das ganze Buch ?!

(Olaf W.)

 

 

Der Rahmen ist gesetzt, die Sam-Spade-schnodderige Maxine beginnt mit ihren Ermittlungen gegen das IT-Sicherheitsunternehmen hashslingrz und dessen CEO Gabriel Ice. Pynchon lässt uns eintauchen in die Welt der Techies, Hacker und Nerds, die er erstaunlich detailgenau schildert. Wer sich an 56K-Modems („awesome speed“), den Microsoft LAN-Manager, Tetris, „gigantic“ 17-Zoll-LCDs mit 256 Farben und die ersten virtuellen Welten mit Avataren erinnern kann, bekommt garantiert nostalgische Gefühle.

Es geht jedoch nicht nur um Technik, es geht auch um New York, den „rästelhaften Verdächtigen“ („enigmatic suspect“), der im Motto von Bleeding Edge erwähnt wird. Mit knappen, aber harschen Worten beschreibt Pynchon die Disneysierung New Yorks, die GESTAPO-Methoden, die bei der „Entmietung“ maroder Wohnblocks im Stadtzentrum angewendet wurden, um Platz für Luxuswohnungen und Kulturstätten zu schaffen, und die bigotte Rolle der Kulturschaffenden („Culture, I’m sorry, Hermann Göring was right, every time you hear the word, check your sidearm. Culture attracts the worst impulses of the moneyed, it has no honor, it begs to be suburbanized and corrupted.“).

Was mich immer wieder beeindruckt, sind Pynchons dichte Sprache und der Detailreichtum seiner Schilderungen (der zumindest nicht-technikaffine Leser abstoßen könnte). Dabei sind auch diese Kapitel von Bleeding Edge immer vor allem eins: äußerst vergnüglich zu lesen! Pynchon ist gewitzt und überrascht immer wieder mit Perspektiv- und Ortswechseln und abstrusen Informationen. So kann ich gar nicht glauben, dass es ein „Meat Facial“ gibt, eine Methode zur Straffung der Gesichtshaut, bei der frisches Hühnerfleisch aufgelegt wird. Frisch bedeutet dabei im Nebenzimmer geschlachtet!

(Thomas S.)

 

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6 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Was Olaf beschreibt, ist genau mein stetes Schwanken, das ich bei Pynchonbüchern immer hatte: mal war es mir des Burlesken zuviel, mal zog es mich durch ein Buch mit kräftigem Sog, bei Vineland und der Versteigerung von Nummer Sowieso war das der Fall. Da rauschte ich durch, bei andern Büchern blieb ich auf der Strecke.

    Bin gespannt, wie sich dieses Leseerlebnis entwickelt. In meinem „normalen“ Leben, ohne dieses Parallellesen wäre ich wohl gerade durch einen Thriller namens „Lebt“ gerauscht :)!

  2. Michael Engelbrecht:

    Und Mason & Dixon empfand auf den ersten hundert Seiten als total langweilig, das konnte auch ein sprechender Hund nicht mehr retten!

  3. Lajla nizinski:

    Gestern habe ich ein Foto von Pynchon gesehen. Der sieht aus wie „the nutty professor“. Heute habe ich mir das Buch gekauft. Jerry Lewis hat mich oft sehr zum Lachen gebracht. Mal sehen, ob das Gesicht sein Versprechen hält.

  4. Henning:

    Über New York gesprochen: zu dieser Stätte gehören unverbrüchlich die unsäglich dick einsackenden, hunderte millionenschweren angehimmelten Popstars (und das Gewerbe um sie herum). Der- oder diejenige, die die Welt aus Innenkenntnis sexieren würde, müsste sich danach wohl eine neue Identität zulegen und ein anderes Leben anfangen.

  5. Henning:

    Haha, die Plage der Autokorrektur! Könnte interessante Textstrategie sein. Autokorrekturen und Vertipper stehen lassen. Im vorliegenden Fall:
    s e z i e r e n hier oben.

  6. Michael Engelbrecht:

    Das kann ich nicht oft genug lesen:

    “Justin wollte in der Zeit zurückreisen in ein Kalifornien, das es nie gegeben hatte: ungefährlich und mit stets blauem Himmel, wo es nur Abend wurde, wenn jemand einen romatischen Sonnenuntergang sehen wollte. Lucas dagegen schwebte etwas, man könnte sagen Dunkleres vor, ein Ort, wo es viel regnete und Perioden von großer, von den Kräften der Zerstörung erfüllter Stille hereinbrachen wie der Wind. Die Synthese von beidem war DeepArcher.”


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