Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2014 4 Sep.

Martina sortiert ihren Plattenschrank (5)

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags: , | 8 Comments

Es begann damit, dass sie mich an einem Nachmittag im Herbst auf der Straße in Budapest ansprach und mich nach dem Weg zur schwedischen Botschaft fragte. Sie hielt mich für eine Ungarin (was ich tatsächlich auch hätte werden können), und sie sprach fließend deutsch. Das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt. Ich wusste natürlich nicht, wo sich die schwedische Botschaft befand, aber ich hatte einen Stadtplan dabei. So fing es an. Eigentlich war ich mit einer Gruppe unterwegs, die ich mir nicht ausgesucht hatte, zu Bildungszwecken, aber ich fühlte mich in der Gruppe nicht besonders wohl, und so traf ich, wann immer ich Zeit hatte, fortan Adrienne. Sie schlug vor, ins Blindenmuseum zu gehen. Es war naturgemäß so dunkel, dass man bei geöffneten Augen nur Schwärze sah, bis über den Horizont hinaus. Da wurden Straßenszenerien simuliert. Plötzlich stieß man mit dem Kopf an irgendeinen Gegenstand oder man stolperte über einen Bordstein. Ein Auto hupte, ein Hund bellte und jemand rief etwas nicht verständliches. Am bedrohlichsten war jedoch die Gruppe französischer Jugendlicher. Dann saßen wir einfach im Gras und blickten in die Stadt mit ihren alten Häusern. Adrienne mochte auch die düsteren Romane von Thomas Bernhard, diesen untergründigen Humor, mit dem all diese an ihrem Leben verhinderten Figuren ausgestattet waren. Das Kalkwerk, und all die Geistesprodukte, die hätten entstehen können. Beton. Adrienne führte mich in Cafés, die nur die Einheimischen kannten. Mit farbigem Zuckerguss überzogene eckige Kuchenstückchen. Es war eine große Armut in der Stadt. Menschen mit einem Gesichtsausdruck, den ich gut kannte, saßen am Straßenrand hinter ein paar auf dem Boden ausgebreiteten Gemüse- oder Obststücken. Dennoch war das Land damals im Aufbruch. Auf der Suche nach Zugehörigkeit zu Europa, im wirtschaftlichen Sinn. Adrienne und ich gingen in einen Plattenladen und ich fragte sie, welche Musik man hier hören würde. Sie zog ein Album heraus und ich kaufte es. Dieses Album präsentierte die Stimmung im Land. Ich verstehe kein Wort davon. (Ich weiß nur, was auf ungarisch „Guten Tag“, “Guten Abend“ und „danke“ heißt.) Und trotzdem habe ich ein vages Gefühl darum, worum es geht. Ich könnte es nicht in Worte fassen. Einige Songs erinnern an die Dire Straits. Worüber verhandeln die Dire Straits? Andere Stücke sind härter, rockiger. Manchmal muss man sich selbst Mut machen. Das Cover (hier nicht abgebildet) hat etwas Gemeinschaftsfixiertes an sich. So ganz geheuer ist mir das nicht.

 
 
 

 
 
 

Ich habe versucht, den Titel des ersten Songs mit Hilfe eines Internetwörterbuchs zu übersetzen: Napliget. Doch ohne Ergebnis. Entweder greifen die Songschreiber zu Worten außerhalb der Kanons, oder es lag an einem Übertragungsfehler. Eigentlich hätte ich gern einen Song mit Hilfe eines dieser Internetübersetzungsprogramme übersetzt.

Adrienne verließ Ungarn. Sie zog zu ihrem Freund nach Schweden. Die Spur hat sich längst verloren. Nur ein Stück in meinem Plattenschrank erinnert mich an sie.

This entry was posted on Donnerstag, 4. September 2014 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

8 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Das war meine Vor-Frühstücksgeschichte in Kristiansamd, und auch Richard Brautigan hätte die feine Mischung aus kaum wahrnehmbarem Humor und unsentimentaler Melancholie gefallen. Aber er lebte in einer andeten Zeit, war Alkoholiker, und hat sich dann auch noch im schönen Kalifornien einen Gewehrlauf in den Mund geschoben und abgedrückt. Seine Leiche fand man erst Wochen später. Kennst du sein kleines Buch „Forellenfischen in Amerika“!

    Meine Pechsträhne geht weiter. Das kann noch heiter werden. Ich werde mich gleich unter eine eiskalte Dusche stellen, und mich, was ich Klienten in einer Therapie nie empfehle, „zusammenreissen“. Hier wird vieles erzählt, aber das ganz gewiss nicht. Ein Gebot des Anstands, keine Geheimniskrämerei. Und bitte keine Besserungswünsche. Bei sowas krieg ich Hautasschlag. I’m all right (not really), und niemand ist gestorben. Was ich hier morgen in meiner Performance spiele, ist ein bisschen „special“, und selbst hier könnten sich einige bei eingen Tracks fragen: „Was soll das?“ Darauf wenigstens habe ich gute Antworten. Leider ist mein Vortrag zu lang, selbst jetzt noch, wo ich den akustischen Schocker von „Wire“ rausschmeissen musste.

    Übrigens erscheint heute in Deutschland auf DVD und BluRay TRUE DETECTIIVE SEASON ONE. Soll gut synchronisiert sein, ich empfehle aber das englische Original, mit engl. Untertiteln. Wir sprechen hier nicht von meiner „Schwäche“ für Kriminalromane, sondern von einem Meisterwerk, einem Stück Fernsehgeschichte wie einst diie erste „Heimat“-Serie von Edgar Reitz. Ist natürlich ganz anders :)

  2. Uwe Meilchen:

    Die verschlungenen Wege, auf die ich zu einer „Best of“ der daenischen Band GASOLIN kam, daran denke ich auch immer wieder gerne. Auch da: ich verstehe KEIN Wort von dem, was die da singen: aber auf die Stimmungen, in denen jede Art von Musik einen versetzt, *die* ist wichtig.

    http://manafonistas.de/2013/12/21/rabalderstraede-forever/

    Vielleicht ist „Napliket“ eine Verballhornung des Wortes „Nepliket“ ? Das waere dann der People’s Park in Budapest ! .-D

  3. Martina Weber:

    Was für ein guter Gedanke, Uwe. Eine Andeutung auf einen Park würde jedenfalls zu diesem mitreißenden energiegeladenen Song passen. Du scheinst auch einmal in Budapest gewesen zu sein. Ich war vor einem Monat wieder da. Deshalb weiß ich auch diese drei ungarischen Vokabeln. Mir hatten einige Leute gesagt, Budapest sei inzwischen wie jede andere Großstadt. Aber das stimmt nur, wenn man sich ausschließlich in der Einkaufszone der Innenstadt aufhält. Ich hatte mein Fahrrad dabei und nach ein paar hundert Metern ist man in einer ganz authentischen Stadt. Man versteht gar nichts, bewegt sich durch endlose baumlosen Straßen. Und das ist manchmal sehr gut.

  4. Martina Weber:

    @ Michael: Hast du einen Crashkurs bei den Computerprogrammen gemacht, bei denen du einen eigenen Text eingibst, und das Programm dir dann sagt, welche Autoren ähnlich schreiben wie du? Tatsächlich habe ich vor einigen Wochen etwas von Richard Brautigan gelesen, das war im Rahmen meiner Regalumsortierungsarbeiten. Es gibt Leute, die ihre Bücher innerhalb weniger Minuten von einem Regal in ein anderes sortieren können. Ich bin das Gegenteil davon. Fange ständig an, in etwas hineinzulesen, herumzublättern. Vor 18 Jahren brachte der Rowohlt Verlag sehr kleine Taschenbücher zum Preis von 2 DM heraus. Ich hatte mir ziemlich viele davon gekauft, zwei von Richard Brautigan: „Wir brauchen mehr Gärten“ (in dem las ich, ist eigentlich ein guter Titel, oder nicht?) und dann gibt es hier noch den Band „Wir lernten uns kennen.“ Beeinflusst? Sind wir doch durch alles. Ist also nicht auszuschließen. Das Unterbewusstsein – na ja, darüber brauche ich nicht zu reden. Er hat etwas sehr Lässiges. Ich mag das.

  5. Uwe Meilchen:

    Nein, in Budapest war ich noch nicht — meine einzige Assoziation mit Budapest ist der weit vor meiner Zeit gedrehte Film „Ich denke oft an Piroschka“ mit Liselotte Pulver. .-D

    Weil Du von baumlosen Strassen gechrieben hast: Mein Traum waere es einmal auf einer Hallig Urlaub zu machen; eine gute Bekannte von mir hat vor einiger Zeit Urlaub auf der Hallig Hooge gemacht. Ihre Berichte klangen sehr vielversprechend. –> http://hooge.de/

  6. Martina Weber:

    Auf so einer winzigen Hallig würde ich vermutlich nach ein paar Stunden Platzangst bekommen. Ich habe irgendwann einmal einen Reisebericht über das Leben auf einer Hallig gelesen. Das klang irgendwie klein. Aber wenn es dein Traum ist, dann heißt es: umsetzen!

  7. Jan Reetze:

    Wer Thomas Bernhard mag, kann kein ganz schlechter Mensch sein.

  8. Martina Weber:

    Danke, Jan :))


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz