Es begann wahrscheinlich viel früher, aber auf jeden Fall begann es an einem Feiertag morgens in Bochum, im Cafe Tucholsky. Man sehe sich nur das dort geschossene Foto zu „p1“ an – die angenehmen Szenecafes in Dortmund hatten so früh noch geschlossen, und ich fuhr nach Bochum, mit grosser Lust auf das „mediterrane Rührei“. Ich sah die Plakate an der Wand, und beschloss, von einer Sekunde zur andern, diese Reihe zu schreiben – „p1“ bis „p75“. Nach jeweils 15 Gedichten erfolgt eine Pause von mindestens vier Wochen, zum Aufladen der Batterien. Zum halben Vergessen des Geschriebenen. Zum Musterbruch. Sollte ich den langen Atem verlieren, verliert sich auch die Spur der Zahlen, das Unvollendete ist der Normalfall, das Vollendete enthält oft Blendwerk genug (im schlimmsten Fall ist es „hype“ , der kolossal gebildete Umgang mit jeder Menge kaltem Kaffee). Jedes Gedicht würde acht Zeilen haben und eine musikalische Anspielung. Jedes Gedicht würde konventionelle Zeichensetzung haben, jeder Reim war vornherein ausgeschlossen: das Verfassen dürfte die 15-Minuten-Grenze (intuitiv geschätzt, keine Stoppuhr im Spiel) nicht überschreiten, und jeder Text müsste meine kritische Nachlese überstehen. Dann würde er sofort gepostet. Verliert der Text innerhalb desselben Tages seine Qualität (weil ich ihn nicht mehr mag, aus welchen Gründen auch immer), wird er gelöscht, kurz und schmerzlos. Nachträgliche Veränderungen jederzeit möglich, verdichtungshalber. Ich brauche nur eine „Blitzidee“, dann weiss ich, das Gedicht springt fast von allein aus den Tasten. Es gibt z.B. „storylines“ in lyrischen Texten dieser Art – sie dürfen gar auf eine Pointe zulaufen, wenn die Pointe Lust macht, den Text noch einmal zu lesen. Und, im Idealfall, noch einmal. Die mir am besten gefallenden Gedichte rechne ich allesamt zur „Spannungsliteratur“. Ganz tief in meinem Unterbewussten wohnen einige dieser Gedichte mit hohem „Thrillfaktor“, in einem nie abschliessbaren Raum, und sie stammen von Frank O’Hara, Christoph Meckel, Rolf Dieter Brinkmann, William Carlos Williams, und zwei Namen, die mir auf der Zunge liegen, von einem Argentinier, und einer Polin. Nichts zielt auf grosse Kunst, alles auf kleine Momente. Und auf das Gewinnen einer rech hochdotierten Wette!
2014 8 Juni
Ein „poetologischer“ Text, oder: Die Sache mit „p“
von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 7 Comments
7 Comments
-
Martina:
Die Polin, ist das vielleicht Wislawa Szymborska? Der Südamerikaner: Pablo Neruda?
-
Michael Engelbrecht:
Wislawa, genau, der Argentinier ist Roberto Juarroz.
-
Martina:
Ah ja, von ihm habe ich einen schönen langen (80-seitigen) poetologischen Essay hier, „Poesie und Wirklichkeit“, ich markiere mir ja immer gern Passagen in Texten, hier eine besonders dick markierte: „die Poesie erschließt die Skala des Wirklichen (Raum, Zeit, Geist, Sein, Nichtsein) und verändert das Leben, die Sprache, die Sicht oder Welterfahrung, die Möglichkeit jedes einzelnen, seine schöpferische Freiheit.“
-
Michael Engelbrecht:
Mhm. Also, ich liebe einige seiner Gedichte, einsame Klasse! Diesen „poetologischen Satz“ finde ich dagegen allzu pathetisch und überhöht. In seinen Gedichten nimmt er, trotz ihrer philosophischen Tiefe, den Mund zum Glück nicht so voll. Ein guter poetologischer Text trifft beiläufig uns Schwarze, nicht durch solche ideologischen Überzeichnungen.
-
Martina:
Nun, es ist natürlich ein Satz, herausgerissen aus eher beiläufig und lässig dahingesagten Bemerkungen zur Poesie. Er klingt wirklich ein bisschen overdressed. Ist auch einige Jahre her, dass ich den Text gelesen habe, es gab eine Zeit, in der ich solche Sätze gesucht habe. Die ist jetzt vorbei.
Mir ging es oft umgekehrt: Dass ich Poetologien als sehr inspirierend empfinde und die Gedichte der entsprechenden Autoren dann nicht so. Vielleicht weil sie den großen Versprechungen ihrer eigenen Poetologie nicht standhalten?
In dem Essay finden sich auch einige Gedichte von Juarroz, die sind aber noch pathetischer als dieser Satz. Da ist vom „Erdkreis des Seins“ die Rede. Zeilen wie „Das Mögliche ist eine Kopie des Unmöglichen“ finde ich auch ein bisschen überhöht. Eine Nähe zu den anderen von dir genannten Lyrikern sehe ich da gar nicht. Weißt du noch, wie der Band von Juarroz heißt, der dir gefiel? -
Michael Engelbrecht:
„Dreizehnte Vertikale Poesie“
-
Martina:
Werde ich mir in der Bibliothek anschauen.
Hier der Link zu einem Text von Christoph Meckel, auf Lyrikline, und dezenterweise ohne die bei den anderen Gedichten angegebenen „Kategorien“ zur leichteren inhaltlichen Einordnung:
http://www.lyrikline.org/de/gedichte/fluestern-10096#.U5TaFnY7owo