Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2013 22 Dez

Long time ago

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 2 Comments

Im Grunde bewundere ich Menschen, die aus einem grundsätzlichen Desinteresse heraus Schwierigkeiten mit Mathematik haben. So war es mit H und ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass wir irgendwann auf dem Dachboden in diesem riesigen Haus seiner Eltern landeten und ich versuchte herauszufinden, an welcher Stelle ich mit meinen Erklärungen ansetzen konnte. Es war Frühjahr und unser Abiturjahr, und H´s Abitur war nicht zuletzt wegen massenhafter Fehltage gefährdet. Er musste in der mündlichen Prüfung eine bestimmte Punktzahl erreichen, um nicht durchzufallen. Sein Interesse an mehrfach gestrichenen Ableitungen war wirklich nicht besonders ausgeprägt, schnell schweifte er ab und versuchte, mich in komplizierte Gespräche zu verwickeln. Ich beneidete ihn um seine Lässigkeit, seine Coolness, seinen Humor, seine Gleichgültigkeit gegenüber der Schule, gegenüber allen Autoritäten, seine Provokationen. Er schien auf irgend eine Weise näher bei sich zu sein als ich es war und er schien sich jenseits aller sichtbarer Zusammenhänge in einer rätselhaften eigenwilligen Welt zu bewegen, die ihn trug. Er bewegte sich fernab aller Gruppen, ging allein ins Kino, spielte Horn, war mit seinen reichen Eltern schon überall auf der Welt gewesen, praktizierte die versnobtesten Sportarten, hatte eine riesige CD-Sammlung und in seinem Zimmer, das im Erdgeschoss lag und einen Blick in den großen Garten frei gab, befand sich ein Aquarium, in dem ein paar bunte Fische herumschwammen. Seine Mutter verstand unsere Verbindung nicht, sie hatte mir bei meinem ersten Besuch ein paar Fragen gestellt und ich spürte sofort, dass sie mich ablehnte und nicht ernst nahm. Nachdem H sein Abiturzeugnis abgeholt hatte, verfolgte er seine eigenen Pläne und ließ mich links liegen. H verpflichtete sich zwei Jahre bei der Bundeswehr, bei einer Elitetruppe, was ich nicht besonders toll fand, aber meine Meinung spielte keine Rolle. Der Faden schien abgerissen, er meldete sich nur noch bei einer gemeinsamen Freundin von uns und wenn ich sie vorsichtig fragte, ob H sich vielleicht nach mir erkundigt hatte, verneinte sie, fast überrascht. In völlig unberechenbar seltenen Intervallen schrieb er mir, mit seiner filigranen Handschrift, aus einer mir unbegreiflichen Männer-Sozialisierungswelt heraus; natürlich war er todunglücklich. Er schrieb sich dann in der gleichen Uni ein, in der auch ich studierte – bestimmt nicht meinetwegen -, mit irgendwelchen unverbindlichen Fächerkombinationen, ich erkannte keinerlei Zusammenhang, kein Ziel. Es war Herbst geworden, ich war mit S zusammen, wir betrachteten unser Studienfach politisch und sehr theoretisch. H hatte eine ziemlich aufgetakelt schicke Freundin. H und ich trafen uns gelegentlich und fingen gerade damit an, ohne Erwartungen aneinander eine gute Zeit zu verbringen, real friends. Der Brief mit dem schwarzen Rand und dem Absender seiner Eltern erreichte mich dann nach Weihnachten, zweieinhalb Monate vor H´s 22. Geburtstag. Seine Mutter sagte, er habe ihr gesagt, ich sei ihm immer am nächsten gewesen. Ich zeigte seinen Eltern, wo sein Fahrrad stand und brachte seine ausgeliehenen Bücher in der Unibibliothek zurück. Seinen Studentenausweis habe ich behalten, er liegt in irgend einer Kiste, die ich lange nicht geöffnet habe.

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2 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Gerade noch vorm Einschlafen über deine Geschichte gestolpert, die die Geschichte eines anderen ist. Erzählt vom GarnichtwirklichaufderWelt-Sein. Sehr traurig. Ein Stück von uns allen liegt in der Kiste, die du lange nicht geöffnet hast.

  2. Henning:

    Ja.


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