Der Tag an dem Robert Wyatt im Briefkasten versank (Teil 2)
Dieses Technogewummer … okay, mag sein, ich bin ungerecht, aber die Nachbarn mit dem, was sie Musik nennen, sie gehen mir so auf die Nerven. Der Schmerz ist umso größer, weil die Wyatt-CD immer noch im Kasten liegt und es keine Chance gibt, sie zu befreien, solange der Besitzer der Wohnung den Schlüssel zum Kasten nicht an die Geschäftsstelle von Inter-Holidays geschickt hat.
… da fällt mir ein, neulich im Kino … also da hat sich so ein Programmkinofilm in ein Massen-Max verirrt und ich gehe extra noch am frühen Abend hin …, aber es nützt nichts, da kommen sie schon, schreiend, gröhlend mit XXXL Behältern, randvoll gefüllt mit stinkendem Popcorn, eineinhalb Liter Cola-Kelchen, so ein Kino-Menu eben und machen es sich doppeltsitzbreit gemütlich und schon geht die Sauferei und Fresserei los. Der Hauptfilm, gerade eben begonnen, spielt eigentlich keine Rolle, jau, da kommt ein Freund um die Ecke, klettert über uns alle unentschuldigt hinüber, gelangt zu den Freunden – herzliches Willkommen, Küsschen beidseitig, endlich lümmelt man sich bequem in die Sessel, als eines der Handys in irgendeiner Hose Ton gibt und nach Beachtung schreit. Ja, man sei im Kino, … doch … man habe angerufen, …, nein, man wolle niemanden ausschließen, …, nein, mit dem Film habe das alles nichts zu tun, …, doch man würde ihn vermissen, …, okay, morgen gegen Abend, …, bis dann, …, nein, …, bestimmt nicht, …, also, … wie?, …, ja doch, …, tschau.
Der ganze Film wird mir versaut, dauernd wird telefoniert oder man muss aufs Klo, was bei diesen Riesengetränken ja auch kein Wunder ist und der Film? Dafür scheint sich keiner zu interessieren. Was lernen wir daraus? Ich werde, außer in Programmkinos, nicht mehr in ein normales Lichtspieltheater gehen können. Allein das Wort „Lichtspieltheater“ …, diesem Wort von vorvorgestern, in ihm findet sich doch noch das Wort „Theater“, das heißt eben: nur dem Pünktlichem wird Einlass gewährt und Sprechen während der Vorstellung … unmöglich, geschweige denn zwischendurch aufs Klo abschwirren, das geht ja gar nicht.
Das Technogewummer in der Nachbarwohnung wird unerträglich, eine gute Idee wäre: ein schreiender Impuls meinerseits. Obwohl es mir schwerfällt, Musik zu missbrauchen, ja geradezu zu instrumentalisieren, in diesem Fall geht es nicht anders. Ich hole meinen Ghettoblaster – zur Sicherheit mitgenommen, hätte ja sein können, dass es in der Ferienwohnung an musikalischer Grundausstattung fehlen könnte – und lege die neue Jan Bang auf, And Poppies From Kandahar, das wird sie in Grund und Boden knicken. Voll aufgedreht und tatsächlich: die Wirkung ist perfekt, des Nachbars Musik wird auf ein erträgliches Maß, zumindest für die nächsten 20 Minuten, zurückgefahren.
Und wie schön es jetzt wäre … die neue Wyatt-CD zu hören, gar nicht dran zu denken. Schade, dass ich nicht wenigstens meine erste Wyatt-Platte auf CA überspielt oder CD gebrannt mit in diesen Urlaub genommen habe … 1983, dreißigjährig damals, hatte ich sie mir mit neun Jahren Verspätung gekauft und war einfach hin und weg, platt, einfach im Himmel, was für eine un-gehörte Musik. Was für ein Aufwand das damals darstellte, eine auch nur etwas ungewöhnlichere Platte zu kaufen. Das bedeutete, 38 Kilometer in die nächste Kreisstadt zu fahren, mit dem Plattenverkäufer zu verhandeln, der bei den ersten rund 25 Platten, die ich bei ihm bestellt hatte, durchaus Jagdinstinkte gezeigt und mit gewissem Stolz mir die schwieriger zu beschaffenden Platten überreichte hatte. Ob er denn bereit wäre, nach der Wyatt-Platte zu fahnden. Je nach Stimmung tat er das und bemühte sich oder aber er ließ es unter Nennung irgendwelcher Ausflüchte eben bleiben. Aber diese meine erste Wyatt-Platte, besorgte er mir, Rock Bottom hieß sie.