Wer an sich selbst das zunehmende Fehlen eines Nachklangs von Erlebnissen feststellt und heute schon vergessen hat, was erst gestern war, so als gäbe es nur eine ad hoc abgespulte, traumlose Gegenwart im Rhythmus von leidlichem Schlaf und getriebenem, überfordertem Wachsein, der mag sich in dem wiederfinden, was der Philosoph Byung-Chul Han schreibt, in seinem Duft der Zeit, oder dem e-book Bitte Augen schließen. Auch der Titel eines Buches des Frankfurter Schriftstellers Wilhelm Genazino bringt es auf den Punkt: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Der Erzähler dieser Geschichtensammlung ist beunruhigt, weil sein Gedächtnis ihn zunehmend im Stich lässt. Er versucht Abhilfe zu schaffen, indem er wichtige Erlebnisse mündlich oder in Briefen Freunden erzählt, um sie sich eines Tages dann bei Bedarf „zurückerzählen“ zu lassen:
„Liebe Anne, dieser Tage hat eine kleine Spinne den Weg in unsere Zuckerdose gefunden. Ich wollte sie sofort entfernen, aber dann fand ich Gefallen an ihr. Es sah hübsch aus, wie sie die Gipfel der Zuckerwürfel erklomm und dann Ausschau hielt nach etwas. Sobald meine Hand über der Dose erschien, verschwand das Tier im Gewinkel der Würfel. Nach kurzer Zeit tauchte es wieder auf und setzte die Suche fort. Da durchzog mich die Ahnung, dass ich weder das Zu-Hause-Sein noch das Verschwinden jemals beherrschen werde. Nach einiger Zeit wurde der Spinne das Herumsteigen zwischen den Zuckerwürfeln vielleicht langweilig; oder sie flüchtete sich vor dem Schatten meiner Hand über ihr. Jedenfalls erklomm sie den Dosenrand und verschwand quer über den Tisch. Ich sah ihr nach und dachte: Es gibt keine Flucht, keine Rettung und kein Heil, es gibt nur das Versteck und auch dieses nur vorrübergehend. Der Satz galt der Spinne, aber er beschwichtigete zugleich meine Ahnung. Würdest Du mich (bitte wörtlich) an ihn erinnern, falls ich eines Tages, wer weiß, die Geborgenheit unserer Wohnung überschätze oder mich nicht mehr an die Fehlgeborenheit aller Lebewesen erinnere? Ich hoffe, es geht Dir gut! W.“