Das erste Mal, dass man bei Bob Dylan von einem Spätwerk sprach, war 1982, als das famose Album OH, MERCY erschien. Schliesslich war es damals noch in Mode, jedem über 30 zu misstrauen, Dylan war um die 40, hatte eine Drogenphase hinter sich, einen verheerenden Motorradunfall, und etliche Klassiker in die Welt gesetzt, es gab also Gründe, bereits damals ein Spätwerk auszurufen. Danach gingen die Jahre ins Land, ohne dass etwas Herausragendes von His Bobness veröffentlicht wurde. Aber dann, Monsieur Lanois war wiederum der Produzent, 1997, gab es das nächste fulminante Spätwerk, TIME OUT OF MIND. Rabenschwarz, wie es sich für ein ordentliches Spätwerk gehört. Ich kaufte mir die CD in Portsmouth, an meiner Seite Susanne, allemal so hinreissend wie Dylans Sarah, und nachts lief die Musik in dem Haus, in dem Daphne de Maurier einen berühmten Piratenschinken geschrieben hatte, wir vögelten in einem violetten Himmelbett. Die Dylanologen betrieben alsbald wieder fleissige Sitzungen, die Texte zu deuten. Das sind Leute, die schon im Morgengrauen, lange vor Geschäftsöffnung, vor Plattenläden Schlange stehen, um die edle Ware eines neuen Opus zu erstehen. Man tauscht neue Erkenntnisse aus, und manchmal streitet man sich über die Wichtigkeit älterer Werke: war DESIRE wirklich so gut? Wieder gingen die Jahre vorüber wie nichts Gutes, dann kam nach einigen Petitessen das nächste beeindruckende Spätwerk: MODERN TIMES. 2006. Einsame Klasse. Diesmal produzierte Jack Frost, und das ist Dylan persönlich. Die never-ending-tour schien nie zu enden, Dylan zersägte seine alten Lieder, erfand sie neu, beissend und knurrend, Marginales folgte, ein Doppelalbum, aus der Hüfte geschossen, nicht wirklich wichtig, dafür essentielle Produktionen aus der OFFICIAL BOOTLEG SERIES, das letzte Wort war aber noch nicht gesungen. Über Dylans nächste Partyplatte gab es auch nichts Tolles zu sagen, sie verkaufte sich wie warme Semmeln, Dylan fur Nostalgiker und Barbecue-Freaks. Eher eine Regression im Dienste des Ichs, als ein weiteres mögliches Vermächntnis. Eine schrullige Platte mit Weihnachtsliedern gab es auch noch. Die Stimme hat manchen Winz gewiss tief erschrocken. Nun aber ist es soweit, 2012, TEMPEST, das nächste imposante Spätwerk. Die ersten Sounds tönen wie aus einem alten Radio, und als Dylans Stimmbänder ohne die letzte Ölung loslegen, inmitten eines alten Swingsounds aus den 30er/40er Jahren, mit Gitarren, die wie Klarinetten klingen, denke ich kurz an Louis Armstrong. Ein Hauch von Armstrong in Dylans Stimme? Unglaublich. Ein Freund aus England hat mir die neue Musik via Download geschickt, und ich gehe erst weit nach Mitternacht ins Bett. Es gibt Platten, die können Perspektiven über Nacht verändern, einen Spurwechsel bewirken, eine neue Wachheit provozieren. Man sollte sich besser davor hüten, solche Stimmen, mit denen uns eine lange Geschichte verbindet, als Ruhekissen zu begreifen, als Stillhalteabkommen, als Verwalten der eigenen Träume jenseits der Verwandlungslust. Es ist soweit, ich muss nur noch ein paar Mal in die Lieder hineinkriechen, es wird höchste Zeit, es ist schon spät! (für E.)
2012 28 Aug.
Bob Dylan und das „Spätwerk“ (eine Improvisation mit möglicherweise unkorrekten Jahreszahlen)
von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Comments off