Yves Raveys Erzählung Bruderliebe, schreibt Thekla Dannenberg, ist ein elegant geschliffener, kalter Edelstein. Auf 110 Seiten, in Kapiteln, die gerade einmal aus einem zehnzeiligen Absatz bestehen, konstruiert der französische Autor seine hochkomprimierte Geschichte, die eine mindestens ebenso feine Präzisionsarbeit ist wie das Verbrechen, das es beschreibt. Plan: Die Tochter von Max‘ Chef entführen, eine halbe Million Euro Lösegeld kassieren und über die Grenze abhauen. Eine Angelegenheit von 24 Stunden, ohne jedes Risiko. Scheinbar.
Ravey, der Kunstprofesser aus Besancon, fordert beim Lesen hohe Konzentration und genaues Hinsehen. Auf jedes Detail muss man achten, jedes Zeichen deuten, schnelles Lesen ist unmöglich. Mit einem einzigen Satz verstellt sich wie bei einem Uhrwerk das gesamte Gefüge. Und dabei erzählt er in dieser stilistischen Meisterübung mitnichten die Geschichte einer Bruderliebe, er erzählt eine Geschichte von Rivalität, Verrat und von einem Verbrechen, dessen Perfidie sich erst auf der allerletzten Seite enthüllt.