Seit den Fractured Fairy Tales aus dem Jahre 1989 ist Tim Berne seiner Linie treu geblieben – und bruchstückhafte, fragmentierte Erzählungen bekommt man auch auf Snakeoil, dem jetzt bei ECM erschienenen Werk dieses Musikers, zu hören. Und um es gleich zu sagen: Snakeoil ist ein grosser Wurf.
Vom Maler Max Ernst hieß es, er sei ein Zauberer kaum spürbarer Verrückungen gewesen. Gleiches gilt auch für den Saxofonisten Tim Berne, denn seine Musik entfaltet eine ganz spezielle Wirkung. Er schafft es nämlich, in seinen sich entwickelnden Kompositionen von bis zu einer Stunde Dauer Überraschungs-Effekte entstehen zu lassen – und man fragt verblüfft: „Wie macht der das?“
Nicht so einfach: asymetrische, verschrobene Melodielinien – dazu vertrackte Rhythmen und Metren; eine vorgegebene Komposition und der festgelegte Gesamtablauf bilden das Gerüst, mal im Akkordschema sich bewegend, aber meistens frei davon. Hinzu kommt jede Menge Freiraum für Improvisation und Mitgestaltung der Musiker. Das ist der Trick – und das macht Spass, weils keine öde Skalenreiterei ist. Obwohl Komposition, ist doch alles offen. Nichts für Klassikpuristen.
Es beginnt meist mit leisen, improvisierten, stimmungsvollen Passagen: eine einsame, suchende Bläserstimme etwa, von einer zweiten dann umspielt, quasi bezirzt. Gekratze auf dem Kontrabass, perkussives Zirbeln und Geraschel. Still und heimlich schiebt sich da ein Blues-Groove drunter, massvoll in vertracktem Taktmass erst, der das Ganze treibt, langsam aber sicher hin zum explosiven Schlusspunkt. Darüber haben sich inzwischen längst diese bernesteinfarbenen Melodielinien gelegt: fein auskomponiert, organisiert – als Themen und Schemen mit Wiedererkennungswert – aber frei von Sentimentalem.
Das Gesamtwerk Bernes ist ein Perpetuum Mobile, eine sich ewig fortsetzende, spannungsreiche, klangfarbenfrohe Prozession in dieser eigenartigen Polarität aus Stille und Aufruhr. Fractured Fairy Tales – um diesen Titel nochmals aufzugreifen, bezeichnet zum einen die erzählerische Komponente in Bernes Musik, mit splitterhaften Melodielinien, aber auch ruhigen, friedlichen Momenten der Besinnung und des Vorantastens.
Zum anderen bezeichnet er ihren hohen Assoziationsgehalt. Denn wie ein gut organisierter, durchdachter und drapierter Scherbenhaufen spiegeln die Berneschen Kompositionen fast die gesamte Musikgeschichte.
Durch die Nähe zu allen möglichen Genres wirkt diese Musik wie ein eröffnender Schlüssel: da sind die Blues-Roots (der Einfluss seines Lehrers Julius Hemphill?), dann Folk, Klassik, Neue Musik. Es spiegelt sich darin vor allem aber der Geist des melodiös-romantischen Jazz, wie ihn vormals Oregon spielte oder das “American Quartett” des Keith Jarrett (mit Paul Motian, Dewey Redman und Charlie Haden) – auf der Survivors Suite oder auf Fort Yawuh.
Welch ein Glücksfall ist es nun, dass diese Musik jetzt auch bei ECM seine Wirkung zeigt – in einem ausgeprägt kammermusikalischen Tonfall. Nicht nur die dem Label eigene Ästhetik, auch die Mitmusiker dieser Produktion tragen ein Übriges dazu bei:
Ches Smith mit seiner ganz eigenen Kunst der Perkussion, Oscar Noriega mit virtuosem, geerdetem Klarinetten- und Bassklarinettenspiel, und einem Matt Mitchell, der versiert und modern wie Berne-Companion Craig Taborn spielt – auch er ein Crack an den Tasten, sehr gelassen und mit fast klassischem Anschlag.
Nehmen Sie sich Zeit.
(von J. Siemer und M. Engelbrecht)