an diesen surrealen Roman von Italo Calvino, dem der Schriftsteller David Mitchell attestierte, heitere Avantgarde zu sein, denke ich an die vielen Romananfänge, die sich in diesem Erzählwerk aneinander reihen, unterbrochen von der zarten Liebesgeschichte zwischen einer Leserin und einem Leser. Das Schöne war, wie oft man in diesem Buch mit dem Versprechen eines neuen Anfangs geködert wurde, der dann stets in neue Welten, aber zugleich nirgendwohin führte. Etliche Jahre später habe ich dann die Lektion angewendet, die ich bei Calvino unbewusst gelernt hatte. Wenn dich ein Roman in ein uninteressantes Nirgendwo führt, statt, wie Calvino, in verführerische Nirgendwos, klappe das Buch zu, rasch! Dann wird es nie wieder passieren, dass du dich selbst austrickst und einem hochdekorierten Autor durch hanebüchenen Quatsch folgst. Bis zum bitteren Ende. In dieser Hinsicht (ich war so doof und habe es, einst, ganz gelesen) wird mir nie wieder das langweiligste Buch meines Lebens begegnen, denn ich müsste ja das ganze bleierne Werk durchkauen, um ein solches Urteil zu fällen. Und so thront einsam im Olymp des kulturell aufgeladenen Hoch-Blödsinns, Peter Handkes „Der Chinese des Schmerzes“, ein ganz und gar tumbes, gewiss virtuoses Deptessivum, ein Betroffenheisschinken sondergleichen, in dem ein großer Stilist pure Langeweile zelebriert (trotz Mord und Totschlag). Auch Calvinos postmoderne Romanze wirkt nach all den Jahren etwas altbacken. Aber manchmal denke ich an die Zeit der Lektüre zurück, wenn ich mal wieder in einem Buch gelandet bin, dass mich nicht, calvinoesk, mit einem Augenzwinkern und kurzem Genuss an die Luft setzt, bestens unerfüllt, sondern in einem, in das ich tiefer und tiefer eintauche, wie jetzt, in die Zeit der Staubstürme und der großen Depression der frühen 30er Jahre. Home was anywhere you hung your hat, and family was often whoever sat around your campfire, heißt es im Klappentext von Joe R. Lansdales neuem Roman ALL THE EARTH, THROWN TO THE SKY. Und das klingt doch, oder nicht, nach einem verlockenden Nirgendwo?!
Archives: März 2012
2012 31 Mrz
Wenn ich mich an den Reisenden in einer Winternacht erinnere,
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
2012 31 Mrz
Garth Knox: Swirling across the centuries
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
The viola is emerging from the shadows: Garth Knox’s utterly original recital combines its dusky tones in new music – by Kaija Saariaho (with electronics) and Knox himself (a flash of moody Piazzolla) – with music for the larger viola d’amore and medieval fiddle. The repertory swirls across the centuries: eloquent, pared down arrangements of Dowland and Purcell songs for viola d’amore and cello, and a complete Vivaldi concerto reduced to its bare outline rub shoulders with vigorous folk dances and a flowing transition from Hildegard of Bingen to Machaut 200 years later, all unified by Knox’s clear-sighted vision and superb, earthy playing. (The Guardian)
2012 31 Mrz
Enttäuschungen (5 Verrisse)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Es ist ja fein, wenn Bruce Springsteen mal wieder den Arbeitskampf ausruft, und seinen E-Street-Rock mit irischer Folklore und Gospel-Flair aufbrezelt. Bei lauter vertrauten Posen bleibt die Musik seltsam formelhaft.
Die Shins waren jedermanns Darling. Nach fünf Jahren meldet sich Mr. Mercer mit einem zuckrigen Familienalbum, anderthalb guten Songs und reinen Mainstream zurück.
Burial hat wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben, kollektive Begeisterung stellt sich fast reflexhaft ein, doch höre ich mir die Mini-CD in Ruhe an, überfällt mich das grosse Gähnen. Monoton auf eine nicht sonderlich spannende Art, Sounds von der
Stange. Was findet man nur an diesem stillen Helden der britischen Elektronik-Szene? Mir ein Rätsel. Vor etlichen Jahren war es Aphex Twin, der mit Selected Ambient Works 2 wohl den Eindruck erwecken wollte, als waren die spirits von Brian Eno und Arvo Pärt gleichzeitig in sein Hirn gefahren: aber es waren nur geschmäcklerische Stereotypen, die viel zu viel Beifall ernteten. Und jetzt eben der zum Kult silisierte Dub-Step-Hero. Freund Henry K. hat schon Einspruch erhoben, er liebt Burial, und wird sich hier vielleicht noch äußern.
Richard Hawley greift nach seinem letzten, leisen, intensiven Meisterstück zur verzerrungsfreudigen E-Gitarre und verliert dabei allen Zauber. Rockt seltsam hohl.
Pathos der umangenehmen Sorte.
The Magnetic Fields greifen auf den Synthie-Pop früher Jahre zurück. Ist hier Langeweile der Antrieb? Kein Song zündet.
https://www.youtube.com/watch?v=3BKt07B3A6U&feature=related
R.I.P. (Davy Jones)
Immer wieder geht einer aus dem Bild.
Die Zeit verging langsamer, damals. Und die Monkees hatten so viel Gegenwart um sich geschart, so viel schönen Blödsinn, und ein paar herrliche Songs. Marokko wohnte eine Zechensiedlung weiter. Wir sahen bei ihm die Fernsehserie mit den Monkees, und später (Minuten, nicht Jahre) legte er Miles Davis Live at Fillmore East auf den Plattenspieler. Der elektrische Miles war das, und er haute uns aus den Socken. Dieser unbekannte Schwarze existierte in einer kleinen grossen Welt, gemeinsam mit Tri Top, den Kinks, ersten Zungenküssen, Soft Machine, Kulenkampf, Disco, Charles Baudelaire und Kommissaren, die das Wort Marihuana ziemlich lustig aussprachen.
…einmal wollte ich ein wunderbares liebesgedicht schreiben, die worte flogen mir durch den kopf wie ein schwarm verrückter bienen. Ich geriet ins stolpern, als ich den bildern hinterher jagte. da liess ich alle worte gut sein und sang sugar sugar von den archies…
2012 29 Mrz
Joe R. Lansdale: A Fine Dark Line, jetzt in deutscher Übersetzung im Golkonda-Verlag erschienen („Ein feiner dunkler Riss“), in der vorzüglichen Übersetzung von Heide Franck
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Remember the days of drive in movies? Remember reading books and comics about your heroes late at night? Remember solving murders and trying not to get killed? Well, maybe you don’t remember the last one but Stanley Mitchel does and Joe R. Lansdale has done a masterful job of telling Stanley’s tale. This book takes us back to a much simpler time when life was slower but there were still terrors. Stanley and his friends are working on solving the mystery of some old murders and get caught up in a very dangerous chain of events. As in most of Mr. Lansdale’s books he does a wonderful job of mixing the mystery and terror with humor and heart.
Nur wer Realitäten entwirft, kann sie auch abbilden. Einmal mehr ein grandioser und düsterer Thriller von Dominik Graf. Jenseits aller schrulligen Hinterlandschmonzetten beweist der Münchner Regisseur, wie man noch hart, fiebrig und schockierend erzählen kann, ohne sich in Genremustern zu verlieren. Nach einem Drehbuch von Friedrich Ani, und bis in die kleinste Rolle (Lisa Kreutzer) exzellent besetzt, zeigt Graf, dass er seine Lektionen von Samuel Fuller gelernt hat. Der hatte einst einen der besten Tatorte aller Zeiten gedreht, „Tote Tauben in der Beethovenstrasse“, mit der Musik von Can. Graf schrieb vor Jahren einen interessanten Artikel in der SZ, in dem er die deutsche Krimigemütlichkeit geißelte und Fullers Film als Gegenbeispiel für radikales Fernsehen anführte. Eine fiebrige Ereignisdichte zeichnet auch „Das unsichtbare Mädchen“ aus; man kann den Film, der gestern Abend auf Arte lief, noch ein paar Tage im Netz sehen. Und erfahren, dass man hierzulande leicht von Wildschweinen im Wald gemeuchelt wird, wenn man sich auf so etwas Altmodisches wie Wahrheitssuche begibt. Famos auch Elmar Weppar in seiner Rolle als melancholischer Polizist im Ruhestand.
2012 25 Mrz
Handbuch für Zeitreisende
Manafonistas | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Albert Camus believes that a „man´s work is nothing but his slow trek to rediscover through the detours of art those two or three great and simple images in whose presence his heart first opened.“ (…) In my case, it seems that one of these images is a choc-ice and my dad reluctantly forking out for it. (Geoff Dyer: Zona – a book about a film about a journey to a room, Canongate, London, 2012, p. 27)
Die Manafonistas sind, das dürfte sich rumgesprochen haben, Zeitreisende. JONI MITCHELL BLUE Sie hauen deshalb nicht gross auf den Putz. Natürlich tritt jeder eine Reise an, der etwas scheinbar so Harmloses wie eine alte Lieblingsplatte auflegt. MILES DAVIS IN A SILENT WAY Da schrumpft die Distanz zu lang zurückgliegenden Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten in Sekundenschnelle. BRIAN ENO: MUSIC FOR FILMS Kaum hat man ein solches Werk aufgelegt (wählen Sie jetzt eins aus, bevor Sie weiterlesen, es sollte ein Werk sein, dass Ihnen sofort einfällt, wenn Sie nach den drei schönsten Platten Ihres Lebens befragt werden), LAURIE ANDERSON BIG SCIENCE begegnen einem vor dem inneren Auge (Entschuldigung für die Unterbrechung: aber haben Sie Ihre Desert Island Disc (DID im Jargon der Zeitreiseprofis) ausgewählt??) KEITH JARRETT BELONGING Erinnerungen, die nicht unbedingt ein Zuckerschlecken sind. Auch die schönste Musik kann bekanntlich viel Schmerz transportieren, einmal, weil der Schmerz der Schönheit grossartiger Musik innewohnt (Schuberts Winterreise, Talk Talk´s Spirit of Eden), zum andern, weil womöglich Erinnerungen an ein verflossenes Damals einen durch Wehmut etwas abgemilderten Schmerzfluss bereitstellen. THE BEATLES: REVOLVER Sie merken: das kann ja heiter werden, wenn man sich auf das Spiel mit der schönsten Musik des eigenen Lebens einlässt. Wir sitzen eben alle in einer Zeitmaschine. Manche wollen mit einer Zeitmaschine tatsächlich dorthin zurück reisen, wo sie eine bestimmte Musik (die ihr Empfinden evtl. über Nacht auf den Kopf gestellt hat) wieder zum ersten Mal hören. Den Schauer des ersten Mals neu erleben. Aber das geht nicht. WIRE: CHAIRS MISSING Sie würden sich selber begegnen, und wenn Sie sich selbst begegnen, müssen Sie Fersengeld geben, so schnell wie möglich das Weite suchen. Auf keinen Fall den Dialog, wie ein paar schlichte Esoteriker behaupten mögen. PAUL BLEY OPEN, TO LOVE Wer sich weiter kundig machen möchte, dem empfehlen die Manafonistas an dieser Stelle einen unglaublichen, aber vollkommen wahrhaftigen Roman von David Yu, der soeben bei Rowohlt Polaris erschienen ist: „Handbuch für Zeitreisende“.
2012 25 Mrz
Dance
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Motian, Philosophica, Zeitreisen | Comments off
Gute Musikrezeption hat Ereignischarakter. Sie entzieht sich dem Wiederholungszwang. Mit Hilfe des Zufalls und durch eigenes Geschick (Psycho- und Physiotechniken) wird man überrascht. Das wertende Über-Ich ist lahmgelegt. Man assimiliert, antizipiert, assoziiert. Der Kairos kommt ins Spiel, jener Zeitpunkt, der genau der Richtige ist.
Der Kairos inmitten des Chaos rettet uns vor Kontingenz und Redundanz. Es ist der Moment, der uns befreit aus dieser fatalen Erwartungshaltung, aus diesem Abgesättigtsein, das immer mehr will. Doch im Mangel blüht der gelbe Ginster der Erleuchtung – und im Wartenkönnen. Der Sinn für die Pause; das Evidenz-Erleben; die Frucht der Langeweile.
Wo die Bürokratie beginnt, dort endet nicht nur die Liebe zur Weisheit (Philosophie), sondern auch die zur Musik. Markt- und Konsumentenbedürfnissse zu befriedigen, Erinnerung und Festhalten an Altbekanntem: mehr als das alles ist Musik vor allem der authentische, vitale Ausdruck von Daseinsbefindlichkeiten.
Dem Pianisten Vijay Iyer ist die Verwandtschaft von Musik, Bewegung und Körperlichkeit wichtig – er studierte einst Physik und physikalisch heißt ja körperlich. „Traue niemandem, der nicht tanzen kann“ – bei diesem Spruch fühlt sich wohl mancher auf den Schlips getreten. Aber es ist doch so: wer tanzt, der zeigt und offenbart sich, ist human.
Es klingelt an der Tür, die Mutter öffnet. Ein Verteter? „Vielen Dank, wir brauchen nichts!“ „Ich hätte da aber was, das würde ihrem kleinen Sohnemann gefallen!“ Na gut. Der dubiose Fremde schüttet aus einer dreieckigen Papiertüte Heftzwecken auf ein Tablett – die darauf einen Tanz vollziehen und abstrakte Töne fabrizieren. Das gefällt dem Kleinen in der Tat.
Jahre später dann zur Studienzeit hört der Sohn Paul Motians Dance und erinnert sich an diesen Traum. Rhythmus und Musik: abstrakte Emanationen, entstanden aus Intuition, Einbildungskraft, und Verlangen (the longing). Gäbe es diese Momente nicht, es gäbe auch keine Musik. Nada Brahma. Der Urknall war schon lange vor so manchem Knallfrosch da.
2012 24 Mrz
Masabumi Kikuchi Trio: Sunrise (ECM)
Manafonistas | Filed under: Blog,Musik aus 2012 | RSS 2.0 | TB | Tags: Masabumi Kikuchi, Motian | Comments off
Sunrise
Der japanische Pianist Masabumi Kikuchi hat sich die Fähigkeit bewahrt, sein durchaus romantisches Klangempfinden vor jedem Übermass an Schöngeisterei zu schützen. Auf dem am kommenden Freitag erscheinenden Album „Sunrise“ zelebriert der 1939 in Tokyo geborene Musiker eine so asketische wie ekstatische Musik; an Kikuchis Seite beeindruckt der Bassist Thomas Morgan mit einem ökonomischen Spiel, das jeden einzelnen Ton auf seine Notwendigkeit zu prüfen scheint. Und ohne viel „hineinzugeheimnissen“ in eine der letzten Studioaufnahmen des im November 2011 verstorbenen Schlagzeugers Paul Motian: was dieser einst u.a. in den Gruppen von Bill Evans und Keith Jarrett berühmt gewordene Drummer hier an Reduktion, Klang- und Geräuschfarben sowie Augenblickserfindungen realisiert, scheint eine Qualität jener „letzten Werke“ zu bezeugen, in denen Musiker ihrer ureigenen Expressivität ganz nahe kommen. Die Fähigkeit des Trios, die Musik zwischen meditativer Einkehr und ungebändigter Energie stets neu zu verankern, neu zu entfesseln, bringt einige nie alternde Visionen des Pianisten Paul Bley in Erinnerung, etwa sein Gespür für das Atemholen der Klänge, und für das melodische Potential des Free Jazz. In dieser Hinsicht spricht das Coverbild Bände, mit seinen fein gemaserten, lichtflirrenden, fast blendenden Gelbtönen … Dynamiksprünge, Tempoverwirbelungen, ein nostalgieferner Sound: die Musik folgt durchweg unwägbaren, mitunter fiebrigen Erregungskurven. Wenn einem das Abstrakte auf einmal sehr sinnlich, sinnenfroh erscheint, und das Sinnliche von einem Moment zum andern seltsam abstrakt, kaum greifbar, sind Hörabenteuer garantiert! (M.E)
Out of Bounds
A Portrait of Masabumi Kikuchi
Wer ist eigentlich Masabumi Kikuchi? Das kurze, fragmentarisch anmutende Filmporträt Out of Bounds mit seinem etwas drolligen Interviewer gibt interessante Einblicke und weist auf Umstände hin, die über die Kunst der Freien Improvisation hinaus ihre Gültigkeit haben … (J.S)
„You said, you´re much better now than you´ve ever been, and you´re getting better?“
„Because I´m free.“
„What do you mean?“
„Free! Freedom of Choice. I can go anywhere. Because I started believing in myself.“
2012 24 Mrz
Gerry Diver – Speech Project Interview
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Gerry Diver entführt uns mit seiner CD SPEECH PROJECT in die Geschichte und die Geschichten irischer Folkmusiker, verwandelt ihre Sprache in Musik, und öffnet dabei ein weites Feld, von Kammermusik bis Exotica, von traditionellem Folk bis zum Minimalismus. Er ist genauso beeinflusst von Steve Reich und dessen Album „Different Trains“ wie vom intensiven Studium der Hypnose nach Milton Erickson und NLP. Ich schickte ihm einige Fragen, etwa zu einzelnen Sprechstücken wie FEEL NO PAIN oder FULHAM BROADWAY. Das Foto zeigt einige traditionelle Instrumente der irischen Folklore.
Hi Michael,
interview is here!
best Gerry