Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: September 2011

In der Zeitschrift De:Bug fand ich folgende Besprechung der CD ONIONOISE von The Vegetable Orchestra:

Es sind gleich zwei Herausforderungen, denen sich das Gemüseorchester stellt, und die eine offensichtliche, nämlich kontrollierte Klangerzeugung mittels quasi täglich neu zu konstruierender Instrumente aus organisch-variablem Material, könnte sogar die kleinere sein: Seine zwölf Köpfe erarbeiten nämlich alles, von der Organisation bis zur Komposition, konsequent als basisdemokratisches Kollektiv. Man kann es sich aber auch schwer machen! Aber vielleicht geht es gar nicht anders, will man das Material zähmen. Überraschend jedenfalls, dass sich aus einem Dutzend Unterschriften doch so etwas wie Magie und Tiefe entwickeln lässt. Weniger bei der Handvoll augenzwinkernder Tribal-Pop-Stücke, die natürlich Hits sind, aber eben auch Kleinkunst, viel eher beim Löwenanteil des übrigens exzellent aufgenommenen Albums, der einzigartige klanglandschaftliche Biotopszenen bietet, die jeden Elektroniker erbleichen lassen und die zugleich auch immer etwas von einem archaischen Naturbeschwörungsritual haben. Dabei erweisen sich die Musiker auch als exzellente Foley-Artisten, die naturgetreue Gewitter genauso drauf haben wie Shepard-Töne. Weihnachtsgeschenke-Kandidat Nr.1 dieses Jahr.
https://www.transacoustic-research.com
multipara

2011 30 Sep

Late September Days

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„Der Tod hat alles hinweggewischt und nichts übriggelassen. Dieses Nichts ist der Tanz des Blattes, ist der Ruf dieses Kindes. Es ist Nichts und Nichts muß sein. Was weitergeht, ist Verfall, die Maschine, die Gewohnheit, der Ehrgeiz. Es gibt Verwesung, aber nicht im Tod. Tod ist das totale Nichts. Es muß ihn geben, denn aus ihm ist Leben, ist Liebe. Denn in diesem Nichts ist Schöpfung. Ohne den absoluten Tod gibt es keine Schöpfung.“ (Jiddu Krishnamurti)

Die späten Septembertage waren mir immer schon die liebsten im Jahr. Es ist eine Übergangszeit, die prädestiniert ist für Kontemplation. Wer jetzt nicht ins geschäftige Getriebe eingebunden ist und ein wenig Abstand nehmen kann von dem, was  Krishnamurti die Maschine nennt, in obigem Zitat aus seinem Buch „Über Leben und Sterben“; wer vielleicht ungestört auch Sloterdijks „Streß und Freiheit“ lesen darf, das kürzlich erschien und eine erfrischende Wiederbegegnung mit Rousseau bietet und zudem erklärt, warum viele Säue, die durchs mediale Dorf getrieben werden, staatstragend sind; wer also lesend oder nur betrachtend auf einer Bank auf einem Friedhof sitzt im flirrendem Mittagssonnenlicht, das mit farbenfrohen Kontrasten spielt, mit Extremen zwischen Hell und Dunkel und dabei den Herbst ankündigt; wem dort rund zwei Dutzend Eichhörnchen Gesellschaft leisten, die einem, vor Übermut frech, fast auf den Schoß springen – dieser Jemand im Übergang zum Niemand, der Schönheit auch im Tod erkennt: er weiß vielleicht, was wunschlos Glücklichsein bedeutet, fern von Ehrgeiz, Gewohnheit und Trott.

„Take the ghost train from Los Mochis to Veracruz and travel cross country, coast to coast, Pacific to Atlantic. Ride the rhythm of the rails on board the Ferrocarriles Nacionales de México (FNM) and the music of a journey that has now passed into history.“

El Tren Fantasma, (The Ghost Train), is Chris Watson’s 4th solo album for Touch, and his first since Weather Report in 2003, which was named as one of the albums you should hear before you die in The Guardian. A Radio programme was broadcast on BBC Radio 4 on Saturday 30 Oct, 2010, produced by Sarah Blunt, and described as „a thrilling acoustic journey across the heart of Mexico from Pacific to Atlantic coast using archive recordings to recreate a rail passenger service which no longer exists. It’s now more than a decade since FNM operated its last continuous passenger service across country. Chris Watson spent a month on board the train with some of the last passengers to travel this route. As sound recordist he was part of the film crew working on a programme in the BBC TV series Great Railways Journeys. Now, in this album, the journey of the ‚ghost train‘ is recreated, evoking memories of a recent past, capturing the atmosphere, rhythms and sounds of human life, wildlife and the journey itself along the tracks of one of Mexico’s greatest engineering projects.

Say and Play

 

Der Gitarrist Bill Frisell covert John Lennon-Songs auf seinem gewiss rein instrumentalem Album „All We Are Saying“. Bei ECM gibt es bald eine neue CD des norwegischen Pianisten Jon Balke und der famosen Gruppe Batagraf. Auch die erste Aufnahme mit Susanna Karolina Wallumrod für das Gräfelfinger Label erwarte ich mit großer Neugier. Ansonsten gibt es da ein paar bekannte Namen, die nach langer Zeit wieder Opulentes vorlegen: Tom Waits, das erste Studioalbum seit 7 Jahren; Björk, diesmal multimedial verzweigt. Bei Rune Gammofon könnten die kunstrockenden Elektroakustiker von Alog zum grossen Coup ansetzen, voller Neugier blicke ich Chris Watson und seiner Zugreise auf einer lang verlassenen Bahnstrecke entgegen („El Tren Fantasma“) – und von Keith Jarett wird es ein neues Solo-Doppelalbum geben; das Cover ist so farbenfroh wie der Titel, „Rio“. Habe ich was vergessen?

P.S. Über das erste Jon Balke / Batagraf-Album „Statements“ schrieb ich vor etlichen Jahren in der SZ (und ich hoffe, das steigert die Neugier auf den nächsten Streich!):

„Vier norwegische Trommler treffen sich mit dem weltenwandernden Keyboarder Jon Balke und betreiben ein Brainstorming über die Zukunft des Drumming im Computerzeitalter. Bald landet man bei der westafrikanischen Tradition der Bata-Trommeln. … Was über Nigeria nach Kuba kam und in federleichtem Latin Jazz und Pop als exotischer Duftstoff Lounge-Tauglichkeit bewies, wird von der Gruppe Batagraf als archaische Kommunikationsform gewürdigt. Die Geheimnisse der Überlieferung bleiben unangetastet. … Heraus kommt kein anthropologisch-semantisches Experiment …, sondern ein furioses und lebendiges Klangtheater, das alle Klischees eines globetrotternden Fusion-Jazz in der Luft zerfetzt. Die Stimmen von Solveig Slettahjell und Sidsel Endresen erforschen die oft genug hauchdünne Grenze zwischen Sprache und Gesang. Das Altsaxophon von Frode Nymo zelebriert die Kunst des schnörkellosen Solos, wenn es einen in Wolof gesungenen Text begleitet. Auf der anderen Seite vermeiden die Trommler allen Highlife-Überschwang und proben das Miteinander von Genauigkeit und Leidenschaft. Und Jon Balke wählt instinktsicher lauter unverbrauchte elektronische Klänge. Wären David Byrne und Brian Eno in Norwegen aufgewachsen, ihre Klassiker „My Life in the Bush of Ghosts“ hätte im Heute vielleicht genau diese atemberaubende Form angenommen.

2011 28 Sep

Unterwegs mit Wilco und den Jayhawks

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Ob THE WHOLE LOVE oder MOCKINGBIRD TIME, beide Alben laufen und laufen, wie ein Musiknarr freue ich mich über die Wiederkehr einer Lieblingsmelodie, das rauhe Geräusch im sanften Singsang, die Bilder von Highways und Wüsten und eine Brise Beatles, über einen bitte nie endenden 12-Minuten-Song, der aus einer zarten Melodie gesponnen und von immer neuen Details der noch hauchzarteren Sorte unterfüttert wird, ein zwei drei Echos der Byrds, Widerhall aus Teenagerträumen, über diese nie ausgereizten Formate, diesen Rock, der kein Dad Rock ist und doch den Kinderschuhen entkommen, gut abgehangen und ständig auf der Suche, so entspannt wie eine Hängematte und zugleich Treibstoff für hungrige Träume, über eine Musik, die hoffnungsvoll altmodisch ist und sich in der Gegenwart tummelt wie ein „Home, Home!“ murmelnder Fremdkörper, die ihre Reibung und ihr Feuer bezieht aus dem stets anwesenden Einstmals und dem heißen Herzens angesteuerten Irgendwo.

2011 26 Sep

Aufgabe der Literatur

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Im Sommer dieses Jahres galt mein Hauptinteresse dem großartigem Buch Stichwort Liebe von David Grossmann. Hierzulande ist Grossmann mit seinem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden, es erschien 2010, dem Jahr, in dem er auch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. 2008 erschien ein Aufsatzband Grossmanns, der die wichtigsten Stellungnahmen zu Politik und Literatur aus den letzten Jahren beinhaltet. In dem Artikel Die Sprache des Einzelnen und die Sprache der Masse finden sich folgende bedenkenswerte Sätze zur Aufgabe der Literatur:

„ … Die Literatur hat keine einflussreichen Repräsentanten in den Machtzentren dieser von mir beschriebenen Welt, und es fällt mir schwer zu glauben, dass sie sie verändern kann. Doch sie vermag alternative Wege aufzuzeigen, wie man in dieser Welt nach einem inneren Rhythmus und mit einer inneren Kontinuität leben kann, die unseren natürlichen, seelischen und geistigen Bedürfnissen viel mehr entsprechen als das, was uns mit Gewalt von äußeren Systemen aufgezwungen wird.

Ich weiß, dass ich bei der Lektüre eines guten Buches ein inneres Aufklaren durchlebe: Das Gefühl meiner Einzigartigkeit als Mensch wird deutlicher. Die differenzierte, präzise Stimme, die von außen zu mir vordringt, bringt Stimmen in mir zum Sprechen, die vielleicht stumm waren, bis jenes bestimmte Buch kam und sie weckte. Auch wenn Tausende von Menschen in einem bestimmten Moment das gleiche Buch lesen wie ich, steht schließlich jeder von uns allein davor. Für jeden Einzelnen von uns ist das Buch ein Lackmuspapier von einer anderen Sorte.

Das gute Buch – und es gibt nicht viele gute Bücher, denn auch die Literatur ist selbstverständlich den Verführungen und Hindernissen der „Massenmedien“ ausgesetzt – macht den Leser einzigartig und befreit ihn aus der Menge. Es gibt ihm die Möglichkeit zu spüren, wie aus unbekannten Regionen Seeleninhalte, Erinnerungen und Existenzmöglich-keiten in ihm auftauchen und an die Oberfläche steigen, die ihm allein gehören und nur ihm. Die ausschließlich die Frucht seiner Persönlichkeit sind. Das Ergebnis seiner intimsten Schlussfolgerungen. Denn im alltäglichen Leben, in der Vulgarität des Alltags, in der allgemeinen Beschmutzung des Intellekts, der flachen, undifferenzierten Sprache, haben diese Seelenstoffe es schwer, aus jenen inneren Tiefen aufzusteigen und zu Wort zu kommen.

Im Idealfall kann die Literatur unser Schicksal und das Schicksal anderer, die weit von uns entfernt leben und uns völlig fremd sind, verbinden. Sie kann uns zuweilen zum Staunen darüber bringen, dass wir nur mit knapper Not dem Schicksal fremder Menschen entgangen sind, oder Trauer darüber in uns auslösen, dass wir diesen Fremden nicht wirklich nah sind, nicht die Hand nach ihnen ausstrecken und sie berühren können. Ich sage nicht, dass diese Gefühle uns sofort zu irgendeiner Handlung motivieren, doch ohne sie ist sicher keine Solidarität, Verbindlichkeit und Verantwortung möglich.

Im Idealfall kann die Literatur uns die Gnade gewähren, die Kränkung der Entmenschlichung ein wenig zu überwinden, die das Leben in großen, anonymen, globalisierten Gesellschaften uns antut: die Kränkung, selbst in einer „groben“ Sprache beschrieben zu werden, in Klischees, Verallgemeinerungen und in Stereotypen; die Kränkung unserer Verwandlung in einen – wie Herbert Marcuse sagte – eindimensionalen Menschen.

Und die Literatur gibt uns auch das Gefühl, es gäbe einen Weg, die brutale Willkür unseres Schicksals zu bekämpfen: Selbst, wenn am Ende von Kafkas Prozess die Behörden Josef K. „wie einen Hund“ erschießen. Auch wenn Antigone hingerichtet wird, auch wenn Hans Castorp im Zauberberg am Ende stirbt, haben wir, die wir sie in ihrem Kampf begleitet haben, die Macht des Einzelnen entdeckt, menschlich zu bleiben, auch unter schwierigsten Bedingungen. Das Lesen – die Literatur – gibt uns unsere Selbstachtung zurück und unser ursprüngliches Gesicht, unser menschliches Antlitz, bevor es in der Masse verschwamm und ausradiert wurde. Bevor wir von unserem Selbst enteignet, vergesellschaftet und als Massenware zum billigsten Preis verkauft wurden.“
 
 

David Grossman, Die Sprache des Einzelnen und die Sprache der Masse, in:David Grossman, Die Kraft zur Korrektur – Über Politik und Literatur, Frankfurt a.M. 2010, S.95ff

 

2011 26 Sep

Brederode avec Becker

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Gegensätze befruchten sich gegenseitig. Nicht nur in Beziehungen (women from venus, men from mars); in der Biologie; in Wissenschaft und Philosophie (These – Antithese), sondern auch, wer hätte das gedacht – in der Musik.

Als Heiner Goebbels noch zusammen mit Alfred Harth musizierte, sagte er während eines Konzertes einmal, sinngemäß und ungefähr erinnert: „In meiner Musik versuche ich, Gegensätze zu vereinen. So entsteht Schönheit. Ohne das Böse; das Häßliche; das Brutale; das Kaputte wäre das Schöne (Wohlklingende) einfach nur fad.“

Dies ist wohl der Grund, warum mir die Arbeiten Goebbels´ ebenso wie die David Sylvians; John Zorns; Gary Thomas´ (Saxofonist, werden nur Wenige kennen) und Tim Bernes so attraktiv erscheinen – und ich auch zu jenen gehöre, die Mozarts Musik nie mochten.

Nun begab sich das Folgende am Wochenende in der niedersächsischen Landeshauptstadt: ein schreibfauler, dort residierender Manafonista dachte sich, er müsse endlich mal (wieder?) eine anständige Plattenbesprechung posten, denn die Manafonistas seien schließlich in erster Linie ein Musik-Blog. Und da ihm das Wolfert Brederode Quartett nach erstem, flüchtigen Eindruck gut gefiel – nicht zuletzt, weil der Schlagzeuger auch Qualitätskriterium von Colin Vallons „Rruga“ war, hörte er´s in Ruhe an.

Erinnerungen an Oregon kamen auf; das Piano klang ein bischen wie auf einer alten, verlassenen Dorfschule, aus dem Nebenraum aufgenommen (die ECM-Klasse). Man stelle sich ländliche Gefilde vor: Stille herrscht Allerorten vor. Vielleicht nach langer Wanderung betritt man den leeren Saal dieser Schule – und drückt eine Klaviertaste: pure Magie.

Und trotzdem wurde das Brederode-Hören, so etwa ab Track Zehn, etwas fade. Schade. „Anderes muß her, ein Kontrastprogramm, zur Wiedergutmachung, zur Beseitigung des tendenziellen Schläfrigwerdens!“ Der Zufall wollt´ es so: der Niedersachsen-Manafonista wählte Walter Beckers Circus Money. Es war die Offenbarung.

Noch nie vorher erschien ihm diese Scheibe so gelungen. Delikate Klänge, wie gesampled. Zitate einer grandiosen Jazz, Soul, Fusion – Ära. Dass Viele sich am Gesang Beckers stören: geschenkt. Herrlich schräg, abgedreht, schizo. Diesen angereiften Steely Dan – Genossen stelle man sich in der Harald Schmidt Show vor. Zuckergußzyniker unter sich.

Lacan-Leser werden wissen: ein Essay trug den Titel Kant avec Sade. Ebenso gilt Brederode avec Becker; Les Fleurs avec le Mal; romantische Landidylle avec L.A. – und das Gute ist: es funktioniert.

Post Scriptum: eine „anständige“ Plattenbesprechung ist es nun wieder nicht geworden.

– Hey, Michael, dieser Satz könnte von dir sein!

– Sag an!

– „Zusammen mit den Flaming Lips, Lambchop, den Jayhawks oder Calexico werden sie (Wilco) ganz selbstverständlich die Geschichte der Rockmusk weiterschreiben …“

– Stimmt.

“I’ve probably listened to “The Art of Almost” about 5 or 6 times at work over
the past few days. . . I can’t help but crank it up. My co-workers, who have no
taste in music, find themselves fist pumping and making devil horns when they
enter my office. That is an amazing piece of music!” (Ray Dvorak)

2011 21 Sep

Mit John Surman auf der Strasse nach St. Ives

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 1. Polperro
 2. Tintagel
 3. Trethevy Quoit
 4. Rame Head
 5. Mevagissey
 6. Lostwithiel
 7. Perranporth
 8. Bodmin Moor
 9. Kelly Bray
10. Piperspool  
11. Marazion
12. Bedruthan Steps

Etliche dieser Orte werden Sie heutzutage mittels Navi leicht ansteuern können. Damals, auf einer Reise nach Cornwall, brauchte man noch Landkarten. Ich hatte, in einer Besprechung von ROAD TO ST. IVES, in der „Jazzthetik“,dem Fremdenverkehrsverein von Cornwall den Tipp gegegeben, mit diesem exzellenten Soloalbum von John Surman (ECM Records) Werbung zu betreiben. Tatsächlich machen die Namen neugierig, alles Orte der Grafschaft, die in unzähligen historischen Roman auftauchen, Geschichten von Tod, Wahnsinn, Hexerei; Mythen, die in unseren Hinterköpfen rumschwirren, von König Artus bis zu den Nebeln von Avalon. Es war Sommer, als John Surmans Platte der Soundtrack unserer Reise wurde. Wir scliefen in dem Haus, in dem Daphne de Mauriers Schreibzimmer unversehrt erhalten war: da hatte sie diesen berühmten Piratenroman geschrieben, den Hitchcock später verfilmte. Wir gingen durch Tintagel, ich erinnere mich an den das Backsteinpflaster, die Ruhe am Meer, einen Fish ’n’Chips-Laden, aus dem Scarborough Fair von Simon & Garfunkel ertönte. Wir wanderten lange Tage den Coastal Path entlang, von Klippe zu Klippe. Wir brachen auf zu Trethevy Quoit, oder war es Bedruthian Steps? Die Sonne stach vom Himmel, schließlich kamen wir dort an. Ein oller Steinhaufen, dem man nur mit viel Phantasie etwas Pittoreskes abgewinnen konnte. Ein Hund schlug an der Kette, neben dem keltischen „Power Spot“ hingen weiße Bettlaken im müden Wind. Der Ort hatte allen Zauber eingebüßt. Eine Ruine ohne Strahlkraft. Das entsprechende Stück von John Surman ist,  in meiner Erinnerung, sehr kurz, ein wilder Furor mehrerer übereinander geschichteter Saxofone. Ich habe John Surman später einmal gefragt, wie er auf die Namen seiner Kompositionen gekommen sei. ich kann mich nicht genau erinnern, was er sagte, aber ich glaube, er hatte einfach Namen genommen, deren Klang ihm gefiel.   

In meiner Kindheit gab es eine Radiosendung, die nannte sich „Herr Sanders öffnet seinen Schallplattenschrank“. Der Musikgeschmack des Herrn Sanders sagte mir aber nicht so zu, und deshalb war ich, obwohl es für mich ungeheuer spannend war zu erfahren, ob nicht doch der eine oder andere Schatz gehoben werden könnte, nur für kurze Zeit sein Hörer.

Die ZEIT erinnerte an Herrn Sanders und schrieb im Juni 2005: „In Köln zum Beispiel, wo Heinrich Böll gerade Wo warst du, Adam? schrieb, leitete damals der in Breslau geborene Dirigent Franz Marszalek nicht nur das dortige Rundfunkorchester, sondern präsentierte auch eine Sendung, die den drolligen Titel Herr Sanders öffnet seinen Schallplattenschrank trug. Dieser Herr Sanders pflegte sein Publikum sehr geduldig auf das Abo Blau im Stadttheater vorzubereiten, wo es in der Pause Pikkolöchen von Deinhard gab. Und vorher und nachher Carmen.“

Seit Ende der fünfziger Jahren träume ich von einer Sendung, die den Namen trägt „Gregor öffnet seinen Plattenschrank“. Im Unterschied zu Sanders sollte es in dieser Sendung keine musikalischen Grenzen geben und damit eben zu wirklichen Überraschungen kommen, Schätze sollten gehoben werden, an Vergessenes erinnert, Neues präsentiert werden. Ja, und nun kommt es auf manafonistas.de zu einer „Trockenübung“. Es soll in lockerer Folge unter dem Titel „Gregor öffnet seinen Plattenschrank“ an Musiktitel erinnert werden, die es lohnt, einmal wieder herauszukramen und aufzulegen.

Allerdings hat Michael mit seiner hier veröffentlichten „My 50 All Time Favourite Albums“ mein Konzept für die erste Folge von „Gregor öffnet seinen Plattenschrank“ vollkommen durcheinander gebracht, denn nun kam mir die Idee, mit der Vorstellung von fünf meiner „100 All Time Favourite Titel“ zu beginnen (allerdings ganz ohne Platzierungsvorstellung). Mit der Vorstellung der nun folgenden Titel ist dann auch die Tiefe und Weite meines Plattenschranks abgesteckt:

1. 1973 im Herbst, erstes Semester meines Studiums in Bielefeld, ein Besuch in der Altstädter Nicolaikirche: plötzlich rauschen vollkommen fremde Orgelklänge von der Empore herunter. Nach dem Gottesdienst steige ich zum Organisten hinauf, ich muss unbedingt wissen, was für eine Musik da eben gespielt wurde. Es war französiche Orgelmusik, genauer, Musik von Olivier Messiaen. Diese Musik fesselt mich seitdem. Für heute wähle ich aus dem „Livre Du Saint Sacrement“ von Olivier Messiaen (1908-1992) das Stück: „La Resurrection Du Christ“ mit A. Rößler an der Orgel des Passauer Doms. Rößler spielte die Uraufführung des letzten großen Orgelzyklus, der Meister selbst konnte damals seine Komposition nicht mehr spielen.

2. „John Surman: Road to Saint Ives“ erschien 1990 bei ECM. John Surman spielte diese Platte solo ein (soprano, baritone saxophone, bass clarinet, keyboards, percussion). Auf dieser Platte befindet sich ein unglaubliches Stück, ein Musikstück, für mich ungeheuer mitreißend und tiefgründig: „Tintagel“! „Tintagel“, einer Ortschaft inmitten eines zerklüfteten Küstenabschnitts der Grafschaft Cornwall, wird hier ein musikalisches Denkmal gesetzt.

3. 1969 erschien das großartige Album „Miles Davis: In A Silent Way“ Das Titelstück „In A Silent Way“ begeistert mich besonders wegen der Spannung, die sich in diesem Stück aufbaut und die sich erst auflöst, wenn Tony Williams am Schlagzeug so richtig loslegt.

4. Smokey Robinson & The Miracles veröffentlichten im Juli 1970 „The Tears of a Clown“, am 12.9.1970 kletterten Sie mit ihrer U.K.version auf Platz 1 der britischen Hitparade. In Deutschland nahm man von dieser wunderbaren Platte kaum Notiz, aber der Musikbox-Aufsteller in der Milchbar meines Heimatortes hatte ein Einsehen und stellte die Platte ein. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Platte gedrückt habe, bis ich sie mir endlich für 4,75 DM gekauft habe. Heute hat sie einen unverrückbaren Ehrenplatz in meiner eigenen Jukebox.

5. Bei OWL Records erschien 1984 eine der wohl besten Platten des Pianisten Paul Bley. Produzent dieses famosen Werkes war Jean-Jacques Pussiau. Ein Werk aus der Stille kommend, sehr intensiv, ungeheuer konzentriert, auf das Wesentliche reduziert. Titel der Schallplatte „Tears“. Und, da es ja hier um Titel gehen soll: Das Titelstück „Tears“ stellt tatsächlich das Zentrum der Platte dar.


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