Als der Komponist Wolfgang Rihm einmal gefragt wurde: „Wie kommt das Neue in die Welt, Herr Rihm?“ antwortete dieser: „Ja, es gibt doch bereits den großartigen Essay von Boris Groys, lesen sie doch den!“ Ich schöpfte Verdacht, wollte wissen, wer der Genannte sei und bekam es bald heraus: gemeint war damit ein russischer Philosoph, Kunstkritiker und Medientheoretiker und dessen Buch „Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“.
„Wann und warum wandert Kultur nicht ins Museum, sondern auf den Müll?“ – mit dieser für Kulturschaffende, Kritiker und Rezipienten gleichermassen interessanten Frage befasst sich dieses Fischertaschenbuch mit edelweißem Cover und einem Foto drauf von Duchamps Pissoirs – und wir ahnen schon: diese beiden Pissbecken haben es geschafft. Sie haben auf wundersame Weise eine dauerhafte Aufwertung erfahren, die sogar den zum Millionär gewordenen Tellerwäscher wohl noch in den Schatten stellt.
Jeder Mensch weiß: auch die Mona Lisa ist von Verfallsfrist nicht betroffen. Zeugt ihr Lächeln von der Gewißheit, dass ihr der Logenplatz im Louvre nicht zu nehmen ist – bis in alle Ewigkeit? Es ist anzunehmen. Von Boris Groys gibt es noch ein anderes Schmankerl für alle Interessenten von Kulturdynamik: „Die Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit Thomas Knoefel“. Auch dieses Buch weist auf das Wandern kultureller Werte hin und ist in seiner Form des Dialogs (man denkt an Sokrates und seine Schüler) befruchtend:
Boris Groys: „Was ist Mana? Wir haben schon darüber gesprochen, wie der Verdacht funktioniert. Ich sehe ein Ding und plötzlich habe ich das Gefühl, dass es nicht bloß ein Ding ist, sondern das in oder hinter ihm etwas steckt, was gefährlich ist oder was mich verfolgen oder vernichten kann. Die Metaphysik ist, wie gesagt, eine paranoidale Haltung ohne Paranoia. Das Mana ist also nur ein anderer Ausdruck für den metaphysischen Verdacht.“
Hitchcock-Kenner wissen: dieses Auto; diese Vögel; dieses Haus da … – etwas stimmt damit nicht, etwas prickelnd Unheilvolles wartet. Und die kluge Eule in den dunklen Wäldern von Twin Peaks ist stiller Zeuge. Glücklicherweise nähert sich meist irgendein Detektiv oder sonstiger Held stellvertretend für uns der Gefahr, but: no risk, no gain. Dies Das-kommt-mir-aber-verdächtig-Vor gilt aber nicht nur für Bedrohliches. Der Verdacht kann sich auch auf eine positive, vielversprechende Ausstrahlung (charisma) beziehen, auf ein Kultobjekt etwa; einen Fetisch; ein Amulett – irgendetwas von Bedeutung oder Reiz (something relevant or kinky).
Boris Groys: „Und die Menschen, die dem Mana folgen, gewinnen am Ende. Wie die Heiligen drei Könige, die dem Stern folgen. Das alles sind Bilder für das Mana, für den metaphysischen Verdacht. Es ist immer das Gleiche: Wenn man das Mana sieht, wenn man einen Stern sieht und erkennt, dass er sich bewegt, dass er von einem Ort zum anderen zieht – dann soll man ihm folgen, wenn man erfolgreich sein will“.
Geradezu märchenhaft erhaben mutet solches an. Der wanderlustige Sänger David Sylvian könnte hierzu passend singen: „And where are the stars? Didn´t she promise us stars?“ Ich werde den Verdacht nicht los: seine Musik hat Mana, seit nunmehr dreissig Jahren, nicht erst seit Manafon. Doch, doch, die gute Fee führte ihn sicher in das Morgenland …