1 – NEO-EXOTICA, STAMMESRHYTHMEN UND FEINE STRÖME
Lyrik und Musik, geht das überhaupt noch? Ist das nicht ein alter, verstaubter Hut? Akademisches Kopfkino für Literaturfreaks? DRUMS BETWEEN THE BELLS wird kontrovers besprochen werden. Manche Kritiker werden ihre Vorurteile gegenüber Brian Eno abarbeiten, ihn mal wieder verniedlichend Professor Pop, wahlweise auch Godfather of Ambient Music nennen. Manche werden die fantastischen Gedichte von Rick Holland in eine griffige Schublade packen, ohne selbst tiefer in die Texte eingedrungen zu sein. Manche werden sich aber auch Zeit nehmen, und dann eines der aufregendsten Alben dieses Jahrgangs für sich entdecken. Aber der Reihe nach.
Brian Eno hatte von früh an ein zwiespältiges Verhältnis zu Wörtern, ihren Bedeutungen, ihrer Fähigkeit, die Aufmerksamkeit vom Klang abzuziehen. Und so stellte sich dem Pionier der Ambient Music mit diesen Vertonungen moderner Gedichte von Rick Holland ein interessantes Problem: Gedichte als hochgradig verdichtete Sprache ziehen ja eigentlich die Aufmerksamkeit auf sich, jede Silbe, jeder Zwischenton, jede Atempause.
Der englische Klangkünstler löst das Problem, indem er die Texte als akustisch spannendes Material darbietet. Neun Stimmen kommen zum Einsatz – in einem weitreichenden Klangfeld zwischen Neo-Exotica, beinhartem Funk, Trash Jazz, Post-Kraut-Elektronik, ambienter Kammermusik, Stammesrhythmen – und gelegentlich auch richtigen Songs.
Zwar ist unter den Sprechstimmen auch Eno zu hören, aber zumeist setzt er auf originelle, wenig englisch klingende Stimmen, die einen speziellen Akzent, eine eigene Melodie haben (eine Buchhalterin, eine Raumpflegerin, Zufallsbekanntschaften aus der Nachbarschaft in Notting Hill). Und gesprochene Sprache hat es – Eno weist in einem Essay darauf hin – in Songs immer schon gegeben (etwa bei den Shangri-Las (Leaders of the Pack) – mir fällt das lange Intro von Donovans Atlantis ein). Eno nennt diese Stücke speech songs. Und er nutzt alle Nuancierungen zwischen dem gesprochenen und dem gesungenen Wort…
2 – BEDEUTUNGSSPIELRAUM UND BÄRENTANZ
Einst tummelte sich Eno mit David Byrne im „Busch der Geister“ (auf dem Klassiker MY LIFE IN THE BUSH OF GHOSTS); da arbeitete er mit gefundenen Stimmen, von fanatischen Predigern, Nachrichtensprechern, libanesischen Bergsängerinnen; geniales Sampling im analogen Zeitalter! Jetzt eröffnet er ein Theater der Stimmen, das alle Lügen straft, die moderner Lyrik nur ein bescheidenes Dasein im Kellerloch des Elfenbeinturms zuweisen. Beispiel gefällig?
„leben beginnt nicht mit einem titel / der einmannschau / wir sind wasser / und kehren dorthin zurück / wir gehen an den ort des schlicks/ von beere und ballen / der geruch und das rümpfen / der puls und das erblassen / dünnknochenmann / langarmmann / knorpel und kalter wind / mach werkzeug mann / flip aus mann / tanz wie die bären / folge den sternen mann / mit nassem öl auf daunen / ein behaartes elementares / aufgerissene augen festgenadelt um / eine zweimondige kurzsichtigkeit / zu der wir uns im kreise drehen“ (die Übersetzung des Gedichts „a title“)
Man muss und braucht das nicht alles beim ersten Lesen/Hören verstehen – mit der Zeit zünden einzelne Bilder, produzieren Aha-Erlebnisse und locken noch tiefer in die Klangräume hinein. Was mag Brian Eno gereizt haben an den Gedichten von Rick Holland? Ich nahm sein Bändchen STORY THE FLOWERS zur Hand und stiess auf feine Mischungen aus Alltagsbeobachtungen, Großstadtpanoramen, Philosophie, Humor, moderner Physik, plötzlichen Perspektivwechseln und meditativen Umkreisungen einzelner Motive. Den Texten bleibt stets mindestens ein Rätsel erhalten, unsere Phantasie wird nicht in eine bestimmte Richtung gedrängt. Die Gedichte lassen genügend Bedeutungsspielraum.
Und die Musik von DRUMS BETWEEN THE BELLS untermalt nicht einfach, sie bestreitet, verwandelt, treibt an, setzt durch, fordert, skizziert, schwingt aus, dringt ein. Und noch einiges mehr. „Niemals gab es so ein Empfinden“, erzählt Rick Holland, „dass Brian die Musik machte und ich die Gedichte. Gedichte und Musik konnten sich zu gleichen Teilen verändern im Lauf der Produktion, und der Schaffensprozess war ein ofenes Forum der Ideen.“
Zu dem ersten Track des Albums, Bless This Space, erzählt Rick Holland u.a. folgendes: – Ich hatte das Gedicht schon vergessen, da rief mich Brian an und las es mit einem pulsierenden beat im Hintergund. Das gefiel mir schon , aber seine finale Gestalt nahm das Stück erst viel später an, als Leo Abrahams und Seb Rochford ihre Magie verströmten. Leos Gitarre und Sebs Schlagzeug reissen die Musik weit auf und verstärken dieses Gespür einer ansteckenden Freiheit nach einem gemeinsamem Ritual, als ob man bis zu einem Abgrund marschiert wäre und nun keine andere Wahl hätte, als ins Unbekannte zu springen.
Soweit Rick Holland. Bless This Space ist also die ideale Eröffnung, für ein Album, das immer wieder unbekannte Areale erkundet. Textlich wie musikalisch. “the greatest joy there is / is onward search through the darkness”, heisst es in einem andern Gedicht. Gerne verfremdet Eno auch Stimmen, rückt sie ins Surreale, wie in “the real”, einer Attacke auf jeden eindimensionalen Realismus, mit lauter ungebändigten, schwebenden Tönen. Eno, der Expressionist, Eno, der Impressionist. Und Rick Holland ist ein so kongenialer Partner, wie es einst Jon Hassell, David Byrne, oder Harold Budd waren.
3 – TANZ AUF WOLKE 4
Der Clou: zum Ende hin singt Eno – und alle, die seit dem Ausklang der Siebziger Jahre, nach den Klassealben HERE COME THE WARM JETS, TAKING TIGER MOUNTAIN (BY STRATEGY), ANOTHER GREEN WORLD und BEFORE AND AFTER SCIENCE, immer viel zu lange warten mussten auf neue Song-Alben des Herrn Eno, sind kurzfristig versöhnt, mit dem Vortrag von „Cloud 4“. Wolken haben es leider an sich, mitunter rasch zu verschwinden, und es ist fast schon englischer Humor, dass dieser tolle Song deutlich unter der 2-Minuten-Grenze bleibt. Ein Song, so herrlich aus der Welt gefallen wie einst Julie With…, aus BEFORE AND AFTER SCIENCE.
In deutscher Übersetzung liest sich „Wolke 4“ so: „die tollheiten des gemütszustands / bekannte wetterfronten hemmen uns / oder befreien uns wie kinder / nur einen tag auseinander / ein leben lang im himmel / sonne, taste den himmel ab wie im flug / suche nach irgendeinem zeichen / (dinge) werden gut.“
Alles scheint vorbei zu sein, Stille macht sich breit, man schüttelt noch immer den Kopf ob dieses einen Traumliedes, dem man am liebsten hinterher springen möchte – und dann gibt es noch einen Song, kaum glaubliche, gute sechs Minuten lang; den Gesang zelebriert Eno in BREATH OF CROWS mit einer bei ihm selten vernommenen tiefen Stimme, mit einer Langsamkeit und Intensität, die nicht so weit vom Spätwerk eines Scott Walker entfernt ist. Das große Erschauern, der Showdown am Ende eines überragenden Werkes.
Noch einmal Rick Holland: „Wir waren in einem neuen Teil seines Studios, er hatte sein ganzes Equipment in den Raum geschafft, der vorher ein reiner Geschäftsraum war, mit großen, zum Himmel gerichteten Fenstern. Der Regen hämmerte mit schweren Tropfen herunter, das Tageslicht verschwand hinter den Wolken, und da strömte aus den Boxen ein dunkler, fesselnder Sound. Die Bühne war gerichtet für Brians Breath of Crows, eine schleichende Meditation, die dunkel und erhebend zugleich ist. Seine Art zu singen fügte sich in die Atmosphäre ein. Ich hatte das Stück in Mumbai geschrieben, während des Monsuns. Ich hatte ein kleines Zimmer auf Baumhöhe und lebte in enger Nachbarschaft mit der Krähenpopulation der Stadt. Es war der Endpunkt meiner Zeit dort als Lehrer, ich lebte eng mit diesen Tieren zusammen, in einer Kultur, die allem Lebendigen viel Aufmerksamkeit schenkt. Der Song ist vielleicht eine Art nicht-religöse Hymne“:
„mein gott ist im atem der krähen / er wächst und schrumpft mit dem wunsch der natur / ein feuer ohne verbindung mit dem menschenwunsch / aber er muss absolut sein, dieser gott/ denn wenn der verstand still steht bewegt er sich. / mein gott ist im atem von krähen / darf ich mir nicht vormachen / mein ich denken zu lassen / er wächst meinen wunsch zu erfüllen / oder meine sünde zu waschen / aber lass mich mit verwundernung zuschauen / während er seine arbeit macht. / die klänge der heiligen nacht im überfluss / turmfalkenrufe und glocken trinken die luft / und das sinnrennen quillt (lass es herein) / oder die rufe klingen wie hohles blech / oder grammophonkreise und hintergrundstaub / ich muss mich / ersetzt durch most / durch witterung und wahrnehmung / darüber wundern“
4 – SCHARFE KLINGE UND FLIESSENDES PASTELL
Für jedes Gedicht entsteht ein ganz anders gearteter Track, es gibt kein Formular, keine Strophenmuster, keine Gebrauchsanweisungen. Das ist bestimmt etwas, das Eno im Umgang mit diesen Gedichten gereizt hat. Immer wieder bei Punkt Null beginnen. Jeder Masche aus dem Weg gehen. Das Resultat: wir begegnen, klanglich gesehen, der scharfen Klinge – und dem fliessenden Pastell (ein genauer Blick auf die Musik jedes einzelnen Stückes, und diese Besprechung wäre leicht doppelt so lang). DRUMS BETWEEN THE BELLS ist der provokante Gegenentwurf für hochtrabende, angestrengt intellektuelle Kunst – das Album zelebriert pure Sinnlichkeit, ist Seelen- und Geistesnahrung in einem. Die Musik ist archaisch. Die Worte tanzen. Lyrik und Musik: ja, das geht noch. Und wie!
P.S. Das Artwork hat auch Klasse. In der special edition gibt es alle Stücke noch mal, rein instrumental. In einer anderen Reihenfolge, und ganz merkwürdig anderen Hörwirkungen.