Die Zeit ist ein Dieb. Sie stiehlt unser Leben. Frisst unsere Tage, wie man behaupten könnte, und verschlingt unsere Nächte. Stunde für Stunde, Minute für Minute. Menschen, Augenblicke, Geheimnisse. Ganz hinten in meiner unordentlichen Schreibtischschublade, der mittleren, die ich nie leere, sondern immer nur fülle, da bewahre ich seit Jahren einen Daumen auf.
Mit diesen Sätzen beginnt der neue Roman des schwedischen Kriminalschriftstellers Hakan Nesser. Und der in Formalin eingelegte Daumen ist nicht das einzige exotisch wirkende Körperteil, dem eine besondere Rolle zukommt. Da gibt es schließlich noch einen Schädel, der, auf dem Kopf stehend, auf einem Nachttisch ruht – nur bei so genannten Quadratschädeln ist so was möglich – und diesem steckt noch dazu ein Papierfetzen im Mund mit dem Schachzug „e2- e4 schachmatt“. Wie kann der klassische Eröffnungszug eines Bauern zum Matt führen? Man fühlt sich an abstruse Mordszenarien erinnert, die einst Arthur Conan Doyle oder John Dickson Carr konstruiert haben. Aber dieses Buch wird nicht zur Groteske, es erzählt eine Liebes- und Mordgeschichte, die sich in den späten sechziger Jahren in einem kleinen Ort in der schwedischen Provinz zugetragen hat.
Die Rezeption schwedischer Krimis leidet darunter, dass so gut wie jeder Autor erst einmal mit Henning Mankell verglichen wird, um ihm den gebührenden literarischen Platz an seiner Seite, etwas erhöht oder erniedrigt, zuzuweisen. Da geht es dann immer wieder um die von Sjöwall/Wahlöö begründete Schule des „schwedischen Realismus“, und wie kunstvoll ein Autor gesellschaftliche Wirklichkeit mit möglichst Nerven zerreißender Spannung koppelt. „Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla“ schert sich keinen Deut um irgendwelche brennenden sozialen Themen im Schweden jener Jahre, und die Spannung baut sich ganz langsam auf, in einem 324 Seiten währenden Crescendo!
Hakan Nesser interessiert sich vor allem für das Innenleben des jungen Mauritz, der früh seine große Liebe entdeckt – die „klassische“ Nachbarstochter -, der nach geistiger Nahrung sucht und – gefiltert durch das naive Gemüt eines Heranwachsenden – fündig wird bei Jean Paul Sartre und Albert Camus, und der sich bei Kräfte zehrender Arbeit des Torfstechens die nötigen Mittel verdient, um seine Schallplattensammlung zu vergrößern. Denn auch im verschlafenen Kumla ist die große Welle der Hippie-Bewegung angekommen. Mauritz holt sich bei den Texten seiner Dylans und Lennons Gebrauchsanweisung fürs richtige Leben und Fühlen – und wird dabei selber kreativ.
A working class hero is something to be. Und genauso fühlte ich mich, aber die Worte wollten mich einfach nicht loslassen. Wenn ich Songschreiber statt Torfarbeiter wäre, dachte ich, dann würde ich genau diese Worte in Musik kleiden. Eine Viertelstunde später war ich immer noch nicht eingeschlafen. Ich machte wieder das Licht an, setzte mich an den Schreibtisch und brachte die Zeile zu Papier. Dann suchte ich einen Briefumschlag heraus, adressierte ihn an John Lennon, Apple Studios, London, UK, und klebte eine Briefmarke darauf. Vielleicht kann der ab und zu auch ein wenig Unterstützung gebrauchen.
Was leicht zu ironisch gefärbter Erinnerungsseligkeit werden könnte – wird durch den Einbruch von irrwitziger Gewalt getrübt. Ein Mord wirft Schatten auf die junge Liebe des Protagonisten, Schatten auf seine gesammelten Träume von „freier Liebe“, Schatten auf alle kommenden Jahre!
Hakan Nesser versammelt in seinem Roman eine Schar geradezu archetypischer Krimifiguren: die rätselhafte Schöne, der geduldige Kommissar, der gelehrte Vater, der schrullige Polizist, der exzentrische Dandy, das versoffene Dorfgenie! An der Oberfläche ist dies dann auch der alte „Whodunnit“: Der Leser wird einbezogen in die Tätersuche und mit geschickt lancierten Informationen immer aufs Neue geködert. Doch Hakan Nesser gibt sich nicht damit zufrieden, altmodische Krimikunst ins schwedische Hinterland zu Zeiten weltweiten Aufruhrs zu transportieren. Mit einem beiläufigen, allem tragischen zuwiderlaufenden Erzählton, spürt der 1950 geborene Autor eine unüberbrückbare Diskrepanz auf – von Lebenstraum und Lebenstrauma!
Und hierbei entpuppt sich dieser vorzügliche Roman als entfernter „Seelenverwandter“ von Maarten T’Harts „Das Wüten der weiten Welt“. In beiden Romanen bildet die Musik – dort Bach, hier die Rockmusik – einen fulminanten Gegenentwurf zu den Dämonen, mit denen man sich innerhalb der eigenen, gern heil genannten Welt, auseinandersetzen muss.
Der „Deus ex machina“ im Sinne eines alle Widersprüche auflösenden Handlungsentwurfs, bzw. eines von Johann Sebastian Bach oder Jim Morrison veranstalteten Kunstgriffes, funktioniert nicht! Da, wo die dramatischen Momente eines Lebens keine Lösung erfahren, bleibt Musik nur Trostspender – und Aufklärung ein klassisches Schachmatt! Mit einem profunden Pessimismus, der in eine herrlich leicht erzählte Geschichte eingeschleust wird, unterläuft Hakan Nesser das ganze altmodische Gefüge seines Romans.