Und wie heissen für die, die das hier lesen, die wahrhaft großartigen Liederalben des frühen 21. Jahrhunderts? Ich nenne mal in einem Atemzug Sufjan Stevens´ „Illinoise“ , Antony and the Johnsons´„I Am a Bird Now“, Scott Walkers „The Drift“, Bill Callahans „I Wish We Were an Eagle“, Joanna Newsoms „Ys“ (ich erinnere mich daran, wie Karl Bruckmeier mit den Augen rollte, als ich „Ys“ auf eine Stufe stellte mit Joni Mitchells „Blue“), Annette Peacocks „An Acrobat´s Heart“, Robert Wyatts „Cuckooland“ – und David Sylvians „Manafon“. Die katholische Pfadfindermusik der „Fleet Foxes“ taucht hier nicht auf. Natürlich gab es noch viele Lieblingsalben drumherum.
Namensgebend für die Manfonistas war es allemal, das Werk, das David Sylvian 2009 veröffentlichte. Ian Penman zerriss die Musik im „Wire“ in der Luft, in den „Klanghorizonten“ im Deutschlandfunk wurde „Manafon“ zum Album des Jahres; die alten Fans winkten rasch ab, so sie nicht zu denen gehörten, die mit den radikalen Vorträgen der frei improvisierten Musikwelt vertraut waren. Die Stimme, die sich über dem Netz all dieser herrlich spinnerten, fein gesponnenen Töne ausbreitete, kam wie ein Drahtseilakt daher, mit Netz durchaus, und mindestens doppeltem Boden.
Ich mag das Unfertige, das fertig ist, das, was in der Luft hängt und doch entschwebt, halt ganz besonders.
Dieses Unfertige erscheint mir hier vollkommen, ich habe es nun nach einiger Zeit wieder gehört, auch im Vergleich zu der neuen Arbeit, den „Manafon Variations“, und ich staunte, wie mich die „alten“ Lieder wieder vom ersten Ton an umzingelten, einfingen und in einer fast vertraut gewordenenen Fremde aussetzten. Mitten im Land des Kaninchenhäuters.
Anders als Josie, der Manafonista aus dem Norden, erlebe ich hier nichts Sperriges mehr, sondern jene Art von Wohlklang, die zwar wenig mit herkömmlicher Harmonielehre zu tun hat, umso mehr aber mit der Schönheit von allem Unverbrauchtem. Lange liess Sylvian all die freien Improvisationen aus Wien, Tokyo und London im stillen Kämmerlein ruhen, ehe er sie hervorholte, und, ihnen lauschend, die Lyrik schrieb, die Melodien fand. Mir erscheint dieser Zusammenklang von Stimme und Musik mitterweile so naheliegend wie Jan Garbareks Saxofon im Kreise des Hilliard Ensembles. Aber niemand, kein Mensch weit und breit, hat jemals, vor David Sylvian, so eine Musik formuliert. Und nun kehrt er zu ihr zurück, macht noch einmal reiche Beute mit „Died in the Wool – The Manafon Variations“. Diesmal vor allem im Team mit einem japanischen Komponisten, und norwegischen Freunden (Jan Bang, Erik Honore).
A propos Jan Bang und Erik Honore: ein All-Star-Team der experimentellen Musik führt nun in Kristiansand, beim mitterweile 7. Punktfestival, Anfang September, David Sylvians „Plight and Premonition“ aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre neu auf. Jeder der Musiker (Phillip Jeck zählt zur illustren Runde) bringt zu diesem Album seine persönlichen Erinnerungen mit. Für David Sylvian (er formulierte es so vor einer Woche im transtalantischen Telefongespräch) war es ein „landmark album in its own way“. So hoch würde ich das nun wirklich nicht hängen. Reich genug an magischen Momenten sind die zwei langen Tracks allemal, um ein aufregendes Nachspiel zu garantieren. (Die Langspielplatte ist lang vergriffen, man kann das Album aber nachhören auf der 3-CDs umfassenden David Sylvian-Compilation „Camphor“)
P.S. Gerade brachte der Postbote zwei weitere, lang verschollene „landmark albums“ (Pionieralben), frisch eingeschweißt, neu aufgelegt bei Cherry Red Records, Musik aus der Zeit um 1960 herum: „Chega de saudade“ und „O amor, o serriso e a flor“ (love, a smile and a flower), von Joao Gilberto. (Josie, Brasilienmann, übernehmen Sie!). „Joao Gilberto appeared as a light … in the firmament. He became a focus, because he was pulling the guitar in one way and singing the oither way, which created a third thing that was profound“ (Antonio Carlos Jobim). Das war die Musik, die der junge Arto Lindsay in Brasilien unendlich oft hörte, als seine Eltern im Land friedlich missionierten, die Stimme zählt Arto zu den zauberhaftesten des Planeten – im berüchtigten gleichen Atemzug (s.o.) nannte er mir noch Caeteano Veloso und Al Green.