Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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2020 24 Dez

Weihnachtsbäume

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Neuerscheinungen des zu Ende gehenden Jahres spielen in meinen Rückblicken keine Rolle, ausgeschlossen sind sie natürlich nicht. In diesem Jahr fehlten mir weitgehend die Live-Eindrücke. Es gab nur zwei Gelegenheiten für mich, die gleichen Aerosole zu atmen, wie die Musiker auf der Bühne. Was ich schon längst weiß, wurde bestätigt. Es gibt nur extrem wenige Tonkonserven, die mir so unter die Haut gehen, wie das bei einem Live-Konzert passieren kann. Deshalb nehme ich The Lost Septet nicht in die Liste auf. Es ruft immerhin die Erinnerung wach an den Auftritt des Septets in München am 17. Oktober 1971.

Meine Liste wird kurz. Aufnahme finden Alben, die ich im vergangenen Jahr entdeckte, Alben, die beinahe die Wirkung eines Livekonzerts auslösen. Interessanterweise überwiegen dabei Editionen mit Klassischer Musik. Mich wundert das nicht. Ich vertrete seit Jahrzehnten die an diesem Ort eher singuläre Ansicht, dass man etwas versäumt, wenn man Klassische Musik links oder rechts, oben oder unten liegen lässt.

 
 
Lucas Debargue – Klavier

 

 

 

 

Scarlatti · Chopin · Liszt · Ravel

 

Unter den Live eingespielten Werken befindet sich Maurice Ravels wunderbar poetisches, düsteres und groteskes Meisterwerk Gaspard de la nuit und vier köstliche Pralinen aus Domenico Scarlattis riesiger Sammlung. 555 Sonaten sind überliefert. Lucas Debargue hat 52 davon auf einer 4-CD-Box im Jahr 2019 eingespielt. Davon nasche ich hin und wieder.

 

Miles Davis – Trompete & Bandleader

 

 

 

 

THE CELLAR DOOR SESSIONS 1970

 

 

Das 50th Anniversary Album existiert nur in meiner Phantasie. Zu gegebener Zeit wird an diesem Ort mehr davon erscheinen. Es ist jene Band von Miles Davis, die dem sog. LOST SEPTET vorausging. Das Album ist also verwachsen mit meinem Erlebnis vom 17. Oktober 1971. Vor Jahren kaufte ich in Form eines Downloads die veröffentlichten Sets jener vier denkwürdigen Abende kurz vor Weihnachten 1970 aus dem Club in Washington – eine amputierte Edition. Ich habe nachgeholt, was ich vor langer Zeit versäumt habe. Jetzt besitze ich die 6-CD-Box mit der großartigen Dokumentation, die nicht nur reich bebildert ist, sondern in der alle Musiker – der wortkarge Miles Davis selbstverständlich ausgenommen – sich an diese verrückten Tage erinnern. 35 Jahre später.

 

 

Daniil Trifonov – Klavier
 
 

 

 

SILVER AGE – Scriabin · Stravinsky · Prokofiev

 

 

Aufgrund glücklicher Umstände konnte ich Trifonov live in Bayreuth hören. So liegt auch hier eine Verknüpfung mit einer unmittelbaren Wahrnehmung vor, bei der sich zeigte, dass nicht nur Töne die Musik machen, sondern auch die Körpersprache, die Mimik, die Schweißtropfen. Ich werde nie vergessen, wie letztes Jahr im November Shai Maestro den Abend mit seinem Trio begann. Ein paar schlichte Quintklänge würden mich von CD abgehört recht unbewegt lassen. Aber zu sehen, wie Shai diesen einfachen Schwingungen nachlauscht, sie etwas ganz Besonderes für ihn sind in ihrem Reichtum an Obertönen, die aus einem Instrument strömen, das zu erobern er sich gerade anschickt, machte mir Gänsehaut und mehr.

Ich wollte ja von Daniil sprechen. Auf der Doppel-CD sind zwei Werke, die ich seit Teenager-Zeiten ganz besonders liebe. Sergei Prokofievs 8. Klaviersonate konnte ich schon im Jahr 2019 in einer atemberaubenden Live-Performance Trifonovs sehen und hören, allerdings nicht so, dass ich die gleiche Luft atmete wie der Pianist. Ich habe die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker gebucht. Das Album enthält auch Stravinskys Trois mouvements de Petrouchka in einer unübertrefflichen Interpretation. Hmm, BUDAPEST kann da nicht mithalten.

 

Da beginnt jemand im Alter von 3 Jahren mit dem Klavierspiel und wird zu einem der bedeutendsten Musiker, nicht nur der Gegenwart. 70 Jahre später ist es vorbei damit. Unvorstellbar, was es für ihn bedeutet, ohne seinen vielleicht wichtigsten Lebensinhalt weiterzuleben. Auftritte vor Publikum dürften wohl nicht mehr stattfinden, und man kann nur wünschen, dass ganz privat, im engsten Kreis, vielleicht nur in Zwiesprache mit sich selbst das Musik-Erschaffen möglich ist.

 

From July 2018 until this past May, he made sporadic use of its piano room, playing some right-handed counterpoint. “I was trying to pretend that I was Bach with one hand,” he said. “But that was just toying with something.” When he tried to play some familiar bebop tunes in his home studio recently, he discovered he had forgotten them.

New York Times

 

Als Anfang 2018 bei www.keithjarrett.org zu lesen war, dass die beiden Konzerte des Jahres 2018 (New York im Frühjahr, Venedig im Herbst) „due to recent health issues“ ausfallen & NICHT nachgeholt würden, fiel mir Oscar Peterson ein, der von einem Schlaganfall betroffen war, sich aber einigermaßen erholen konnte. ECM ließ nichts verlauten. Es gab nicht das geringste Gerücht zum Gesundheitszustand Keith Jarretts. Ich stellte mir vor, dass ihm das Gleiche widerfahren sein könnte wie Peterson. Am 21. Oktober hat Keith Jarrett in der NYT die gesundheitlichen Probleme offenbart. Es ist denkbar, dass dies angesichts der Veröffentlichung von BUDAPEST CONCERT am 30. Oktober geschah.

 

Im Jahr 2016 spielte Keith Jarrett bei seiner letzten Europa-Tournee 5 Solokonzerte. Das erste fand in Budapest statt, das letzte in München (veröffentlicht am 01. November 2019 – ECM 2667). München dürfte der vorletzte Live-Auftritt von Keith Jarrett gewesen sein.

 
 


 
 

MUNICH 2016 – ich war am 16. Juli im Gasteig live dabei. Zum ersten Mal hörte und sah ich Keith Jarrett am 17. Oktober 1971 in Miles‘ sog. LOST SEPTET Fender piano & organ traktieren. Schon 2 Jahre zuvor hat er mich verzaubert als Pianist des Charles-Lloyd-Quartets. Kein Musiker der Welt, weder Monteverdi, Bach, Beethoven, Brahms, Stravinsky ist mir näher gekommen als Jarrett. Am 18. Januar 1975 haben wir im Hotel Sonne zusammen gefrühstückt.

BUDAPEST 2016 – Thom Jureks Anmerkungen bei Roon enden mit diesem Satz:

 

Jarrett regards this as his current „gold standard“ for live improvisation, and given its reach and focus, it’s difficult to argue with him — especially now.

 

Wenn ein Künstler seine „Taten“veröffentlicht, dann gibt er sie in gewisser Weise aus der Hand. Sie gehören ihm nur noch teilweise. Auch wenn er darunter leidet, vielleicht sogar korrigierend einschreitet … er hat nicht mehr die Macht über das Schicksal seines Werks. Im schlimmsten Fall wird es gar nicht wahrgenommen, im schlimmen Fall wird es abgelehnt und vergessen. Das ist Jarrett nicht passiert und dazu wird es nicht kommen – unvorstellbar, auch wenn die eine oder andere Kritik an seinem Œuvre laut geworden ist. Wir kennen die Geschichte um das Köln Concert. Ich meine nicht die Umstände, die das Kölner Konzert beinahe verhindert hätten. Ich meine dies:

 

SPIEGEL (Klaus Umbach):
Mr. Jarrett, Ihr berühmtes „Köln Concert“ ist mittlerweile ein Super-Hit der Plattenbranche. Sind Sie darauf stolz?

JARRETT:
Nein, man sollte alle die Aufnahmen einstampfen.
 

Das Publikum hat das Köln Concert in Besitz genommen, Keith hat seine eigene Meinung dazu. Jarrett hat sicher immer eine Meinung zu seinen Auftritten. Viele dürften konträr zu den Empfindungen der Hörer sein. Als ich am 17. Januar 1975 im Hotel Sonne mit Keith die Treppe in den 1. Stock hoch ging, fragte ich, wie er sein Spiel fand. „It wasn’t good for me, but I think for the audience.“ Tja, manche Sätze merk ich mir bis zum Lebensende.

Es ist vollkommen unproblematisch, zu äußern, ob man von einem Eindruck bewegt ist oder nicht. Problematisch ist es eher, ein Opus zu bewerten – in diesem Fall BUDAPEST. Da gibt es gewisse Hürden, aber auch Gewohnheiten, von denen ich einige nennen möchte.

Jarrett ist pianistisch, spieltechnisch auf allerhöchstem Niveau. Er hat längst überbordende Kreativität bewiesen. Mir ist kein Pianist von vergleichbarer Weitläufigkeit bekannt. Jarrett ist Improvisator, kein „Schreibtischtäter“, der tüfteln, verwerfen, überlegen und verbessern kann. Er kann nichts zurücknehmen, jedenfalls nicht im Live Konzert. Er kann natürlich die Veröffentlichung auf Tonträger untersagen. Jarrett hat einen Ruhm erspielt, der ihm eine ergebene Hörergemeinde garantiert. Ich erwarte – jedenfalls in den Amazonrezensionen – vorwiegend hohe Bewertungen. Ist der Ruhm erst etabliert, huldigt man ganz ungeniert.

 

BUDAPEST ist ein Album, das ich nicht oft anhören werde. Es spricht mich nicht in derart umwerfendem Maße an wie die Alben aus den 60er und 70er Jahren, jenen Jahrzehnten, in denen Jarrett immer überraschen konnte. Ich erlaube mir dieses Urteil:

Seit den 80er Jahren hat sich Jarrett eingeschränkt auf Solokonzerte und das Standards-Trio. Das Komponieren so pfiffiger Themen wie „The Windup“, „Mortgage on My Soul“ und viele mehr hat er anscheinend eingestellt. Es ist ein gewisser Schematismus eingekehrt, der natürlich keine traumhaften Momente ausschließt, den ich in seinen späten Solokonzerten ebenfalls entdecke.

BUDAPEST und MUNICH sind sich recht ähnlich. Wie einige Vorgänger beginnen beide mit einem langatmigen, sperrigen Impromptu. Budapest Part I zugute halten kann ich eine gewisse Einheitlichkeit im Formalen (Harmonik, Figuration, Andeutung motivischer Arbeit), in der zweiten Hälfte durchsetzt mit neuen musikalischen Ideen. Es bewegt mich aber nicht, es sind viele Töne ohne Wirkung. Bei allem Respekt, for me this is strumming at the highest pianistic level.

Set 1 (Part I bis Part IV) ist harte Kost für die Hörer. Mit Jazz hat es nichts zu tun. Das muss auch nicht sein. Es ist näher an klassischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Dann doch lieber Prokofievs Klaviersonaten – vor allem Nos. 6, 7 und No. 8 – oder Messiaens Vingt Regards und György Ligetis Etüden. Das haut mich immer wieder vom Hocker.

Set 2 (Part V bis XII) ist im Wesentlichen konzilianter. So gesagt, heißt die melodisch ansprechendere zweite Hälfte auch Gelegenheitshörer willkommen. Wunderbar sind wieder die Encores. Nicht dass sie sensationell Neues bieten. Sie sind wie ein guter Wein, der großen Genuss bietet, jedesmal, wenn man ihn einschenkt.

Die Reihe der Golden Anniversaries, die in den jüngsten Jahren erschienen sind, verweisen auf ein Goldenes Zeitalter. Aber nicht alle Preziosen jener Vergangenheit werden vom Rampenlicht erleuchtet. Ich bin sicher, dass nur im Manafonistas-Blog der denkwürdigen CELLAR DOOR SESSIONS gedacht wird.

 
 

 
 

Das Cellar Door ist ein Club, nein, es war von 1964 bis 1981 ein Musikclub mit 163 Plätzen in der 34th und M Street NW in Washington, D.C. Er befand sich an der Stelle eines ehemaligen Musikclubs namens The Shadows. Klein, nur ein wenig größer als der Saal des Textilmuseums zu Helmbrechts, war er einer der wichtigsten Musikstandorte in Washington und durchaus ein Laboratorium, Dinge für größere Events auszuloten, wie etwa die Europa-Tournee des Miles-Davis-Septets vom Herbst 1971. Davis war scharf darauf, dass Columbia diese Live-Sets aufnahm, und drängte die Firma, dies an diesen vier Abenden, nur eine Woche vor Weihnachten 1970, zu tun. Geld gab es so gut wie keines für den Gig im Vergleich zu dem, was er von Auftritten in Konzerthallen gewohnt war. Also bezahlte er die Band aus seiner eigenen Tasche.

Wer die Klanghorizonte Oktober 2020 gehört hat, ahnt vielleicht, dass sie der Trigger für diesen Artikel sind, endeten sie doch mit Tönen aus dem Wiener Konzerthaus, erzeugt am 5. November 1971 vom LOST SEPTET – ein Finger auf … nein, nicht eine Wunde, eher auf eine erogene Zone, denn ich war dabei, als die Tournee 1971 startete, und zwar in München im Kongress-Saal des Deutschen Museums am 17. Oktober und in Frankfurt am 18. Oktober.

 
 

 
 

Diese Konzerte gehören zu den eindrucksvollsten und nachhaltigsten Erlebnissen, die ich je in einer Concert Hall hatte. Sicher ist das ein Grund dafür, dass ich die CELLAR DOOR BAND für eine der bedeutendsten Miles-Davis-Groups halte. Mit dieser Meinung bin ich nicht allein. Peter Wießmüller schreibt:

 

Wie kein anderes Ensemble Miles‘ besaß dieses die Fähigkeit, sich wie in einem Trancezustand über 15 oder 20 Minuten in Hochspannung zu halten.

 

Wießmüller war wohl ebenfalls unter den Zuhörern in München. Jedenfalls deutet er das in seiner Monografie über Miles Davis an.

 
 

 
 

Die Cellar Door Band existierte zeitlich etwa in der Mitte jener Periode, die mit In a Silent Way begann und von On The Corner nach chamäleonhaften Wandlungen vollendet wurde – für mich die elektrisierendste Phase des Electric Miles. Die Band spielte am ersten Abend in Quintett-Besetzung.

 
 

Miles Davis

 

Miles ist nicht der coole Miles mit dem melancholisch angehauchten Ton der Kind of Blue Zeiten. Er spielt bevorzugt in extremen Hochlagen, kaum ausgedehnte Melodiephrasen, eher Gesten, die oft nichts anderes als schrille Cries sind, die durch Mark und Bein gehen.

 

This music reveals a truly muscular Miles Davis at the top of his form as an improvisor and as a bandleader with the most intense and nearly mystcal sense of the right place-the right time-the right lineup.

Thom Jurek

 

Gary Bartz

 

Gary Bartz am Alt- und Sopransaxophon war neu in der Band. Er löste Steve Grossman ab, der am 13. August diesen Jahres im Alter von 69 Jahren verstorben ist. Bartz ist in Hochform. Seine mit langem Atem gespielten atemlosen Soli sind nie langatmig, sind reich an bewundernswerten melodischen Einfällen, frei von routinierten Floskeln. Sein Spiel ist der Counterpoint zu Miles‘ prägnanten Kürzeln.

 
 

Keith Jarrett

 

Keith ist der alleinige (!) Keyboarder nach dem Weggang von Chick Corea – eine bemerkenswerte Premiere in der Elektro-Ära des Miles Davis mit offensichtlich weitreichenden Konsequenzen für die Musikgeschichte. Bei den Cellar Door Sessions gibt es gegen Ende eines Sets immer einen als Improvisation bezeichneten Part. Hier hat Jarrett alle Hände und Ideen frei. Ich bin mir sicher, dass in diesen Momenten der Solopiano-Player Jarrett ausgebrütet wurde. Der Improvisation schließt sich immer Inamorata an, Titelnamen, die so nur bei den Cellar Door Sessions vorkommen. Michas Ausklang der letzten Klanghorizonte brachte genau diese Paarung, welche bei den Konzerten der Europa-Tournee 1971 immer den Namen Funky Tonk führte.

Jarrett mochte die elektrischen Tasteninstrumente nicht. Ich kann das gut verstehen. Wer nur einmal eine einzige Taste an einem Konzertflügel der Extraklasse angeschlagen hat und dem Ton nachlauschte, weiß, dass dieser Reichtum an Obertönen, die vielfältigen Nuancen beim Verklingen keinem elektrischen Instrument zu Gebote stehen. Nur passte ein Steinway-Flügel seit In A Silent Way einfach nicht mehr in eine Miles Davis Band. Jarrett hatte die Wahl zu treffen zwischen ’Akustischem Klavier‘ & ’Member of the Miles Davis Group’.

Keith hat das E-Piano verändert und das E-Piano hat Keith verändert, wenigstens für die kurze Zeit als einziger Keyboarder bei Miles Davis. Bei Jarrett klingt das Fender-Piano nur selten keimfrei rein, sondern richtig dirty, er entlockt dem Instrument mit zügelloser Lust ungewöhnliche Klangfarben, wie der Orgel zu Ottobeuren. Ach ja, eine Fender-Orgel bediente er zugleich mit dem Piano. Ich war wunderbar schockiert, als ich ihm in München zwar nicht zum ersten Mal zuhörte, aber zum ersten Mal zuschaute, wie er seine Ideen, seine Musik in die Tasten tanzte – nicht Jedermanns Geschmack, aber ganz nach meinem Gusto. Jarretts abartige, abstruse Phantastik – ausschließlich positiv zu konnotieren – macht diese von Miles‘ elektrischen Bands zur aufregendsten.

 
 

Michael Henderson

 

Der 19-jährige Bassist Michael Henderson – frisch aus der Band von Stevie Wonder geklaut – kam als Ersatz für Dave Holland. Noch vor den Cellar Door Sessions wirkte er mit bei A Tribute to Jack Johnson. Während Jarrett seinen Veitstanz aufführte, stand Michael Henderson wie eine Statue hinter dem E-Bass – und so spielte er auch. Er war der unerschütterliche Anker in der von Jarrett & DeJohnette entfachten Polyrhythmik.

 
 

Michael Henderson’s electric bass appears and disappears. When present, he dominates proceedings. He arrives like a strict father who has come to control the children. As he stands firm, the others run circles around him, playing dangerously while knowing he will protect them at all times. Laced with fuzz and wah-wah, Henderson plays grooves which in the absence of any obvious melodies, become the focal point of the compositions.

John Marley

 

Jack DeJohnette

 

Es gibt nicht viel zu sagen über ihn, er war ein Anheizer sondergleichen und schon zu Zeiten des Charles-Lloyd-Quartets ein musikalischer Partner von Keith Jarrett.

 
 

Airto Moreira

 

Er stieß erst am zweiten Abend zur Band und brachte mit Cuica, Woodblocks und mit seiner Stimme eine dezente brasilianische Duftnote ein. Man muss oft gut aufpassen, um ihn neben DeJohnettes fulminantem Spiel nicht zu überhören.

 
 

John McLaughlin

 

Er gesellt sich am letzten, dem vierten Abend zur Band. Obwohl er schon bei In A Silent Way und Bitches Brew mit Miles Davis spielte, ist er doch eher Gastmusiker bei diesen Sessions. Ich persönlich werde bei einigen seiner Beiträge nicht recht warm. Aber ausgerechnet jene Stücke der Cellar Door Sessions, die Eingang in das Album LIVE-EVIL fanden, stammen vom letzten Abend, sie sind vorzüglich.

 
 

 
 

Nach den Cellar Door Sessions verließen Jack DeJohnette und Airto Moreira die Band, McLaughlin sowieso, denn er gehörte eigentlich nicht dazu. Für die Europa-Tournee 1971 holte Miles Davis den Drummer Ndugu Leon Chancler sowie die beiden Percussionisten Charles Don Alias und James Mtume Forman in die Band. Mir gefällt diese Rhythmusmaschine besser, spielt doch Chancler etwas luftiger als DeJohnette, und die Percussionisten bringen afro-kubanisches Flair ein. Mtume ist hinreißend, z.B. in dieser Version von Funky Tonk alias Improvisation / Inamorata aus dem Copenhagen Concert vom 8. November 1971.

So verloren, wie der Albumtitel LOST SEPTET es suggeriert, ist das Septett nicht. Es existieren lediglich keine von Columbia CBS verantworteten Live Mitschnitte, Studioaufnahmen schon gar nicht. Es gibt aber zahlreiche Rundfunkmitschnitte, die bei Youtube leicht zu finden sind. Die kürzlich erschienene CD – Micha hat sie vorgestellt – enthält den Mitschnitt des Österreichischen Rundfunks aus dem Wiener Konzerthaus vom 5. November 1971. Aber schon das 4-CD-Album Miles Davis – At Newport 1955-1975 (The Bootleg Series Vol. 4) – erschienen 2015 – enthält das Konzert von Zürich/Dietikon (22. Oktober 1971). Der Albumtitel ist irreführend. Allzuleicht vermutet man, ausschließlich Aufnahmen vom Newport Festival auf Rhode Island vorzufinden. Nicht entgehen lassen sollte man sich den TV-Mitschnitt vom 9. November 1971 aus Oslo. Einen Tag später spielte Keith Jarrett seine Improvisationen ohne die Miles Davis Clique – aufgenommen von Jan Erik Kongshaug im Arne Bendiksen Studio, Oslo. Das Ergebnis: FACING YOU

2020 12 Sep

And Now the Queen

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Mein Vater gab mir Klavierunterricht, als ich etwa drei Jahre alt war. Er war Organist in der Kirche, Musik war für mich wie eine beständig verfügbare Quelle. Und eines Tages fragte ich ihn, wer denn die Musik geschrieben hat, die er mir zum Spielen hinstellte. Ich wollte so was auch machen. Also gab er mir ein weißes Blatt Papier, ich nahm einen Stift und füllte die Zeilen mit kleinen schwarzen Punkten. Ich wusste nicht, dass John Cage auch solche Partituren herstellte, mit Zeichen, die er dort setze, wo Unebenheiten des Papiers auffielen. Mein Vater sagte: „Das sind zu viele Punkte!“ Also nahm ich einen Radiergummi und radierte die meisten Punkte wieder weg – wer mich heute Klavier spielen hört, weiß, dass ich alle überflüssigen Töne weglasse. Das war meine erste Komposition. Naja, das stimmt natürlich nicht ganz.

Meine erste Komposition schrieb ich viele Jahre später für diesen hübschen Bengel mit den verträumten dunklen Augen. Er spielte Klavier in dem verrauchten Jazzclub und ich verkaufte Zigaretten, um dieser verrückten freien Musik nahe zu sein – das Eintrittsgeld konnte ich mir nicht leisten.

 

 
 
Den Titel habe ich bedachtsam gewählt. Mit dieser Komposition machte ich dem aufregenden Pianisten klar, mit wem er es zu tun haben wird. Er hat es verstanden. Später heirateten wir.

 

Diese Geschichte enthält erfundene Wahrheiten. But there is no doubt: Carla is the Queen of Jazz Composers. Sie war die eine Frau unter den Musikern der New Yorker Jazz-Avantgarde, die schon mit ihren frühen Stücken – vertrackten Miniaturen voller raffinierten Esprits und Freiheit gewährender Offenheit – Paul Bley, Charlie Haden, Gary Peacock und (damals schon) Steve Swallow versorgte. Mir scheint, dass niemand ihre enigmatischen Kompositionen besser erblühen lassen kann wie Paul Bley.

 
 

 
 

Gestern habe ich Rosato überreden können, endlich die Vinyl-Edition von Gary Peacocks Album Tales of Another zu digitalisieren. Es ist eines meiner liebsten ECM-Alben und trotzdem sind sehr sehr viele Jahre vergangen, seit ich es zum letzten Mal angehört habe. Meine Ohren waren gestern weit offen und beim ersten Titel der B-Seite Trilogy I werde ich noch hellhöriger! Das kenn ich doch! Und vielleicht erkennen es aufmerksame Leser & Hörer dieses posts wieder:

 
 

 
 

Es ist wunderbar und verblüffend, wie sich verschiedene Fäden des Blogs treffen und verknüpfen und sogar meine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen als Musikhörer streifen, angefangen von Ingos berührender Remineszenz an Gary Peacock, die Wiederentdeckung des Albums Tales of Another, in welchem ich Garys Verbeugung vor Carla höre – ein kleines Samenkorn. Die Übereinstimmung der Töne kann kein Zufall sein.

 
Und dann lese ich noch dies:

… die Story stammt aus der Zeit vor der Aufnahme seines Album „Tales of Another“. Ich weiss noch, wie er erzählte, und wahrschheinlich auch in jenem Gespräch, dass die Kompositionen nur aus einzelnen Samen oder Ideen bestanden. Kernzellen, welche vom Trio aufgegriffen wurden.

ich habe ein Faible für Primzahlen
es sind die Individualisten unter den Zahlen
sie entziehen sich dem Zugriff, sind unvorhersehbar
man kennt bis heutigentags keine Formel, sie zu berechnen
ob der von John Cage so geschätzte Zufall wohl eine Rolle spielt?

 
 

2 ist eine Primzahl

3 ist eine Primzahl

5 ist eine Primzahl

7 ist eine Primzahl

 
 

2357 ist die schönste Primzahl
 

 

 
 


recorded on August 22, 2020

 

2020 19 Jul

One Note Samba

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Das ist ein verwegener Titel, zweifellos! Ein Musikstück, das nur One Note, Einen Ton anbietet, kann nur … ähm, eintönig sein. Und der Komponist? Naja, dem fällt halt nichts ein. Es ist noch nicht lange her, dass Eintönigkeit und Einfallslosigkeit als enges Paar galten. Für Albert Lortzing (1801-1851) war es das gebotene Stilmittel, die begrenzte Kreativität eines dichtenden Bürgermeisters und eines komponierenden Kantors zu karikieren. Beider Huldigungskantate auf den russischen Zaren beginnt so: Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns er – elfmal derselbe Ton, von nur drei anderen gefolgt – schiehienen, dideldum, dideldum, das ist das Zwischenspiel …

 
 

Albert Lortzing – aus „Zar und Zimmermann“

 
 
This is just a little samba built upon a single note.
Other notes are bound to follow but the root is still that note.

Oha, nach 19 Sekunden ist es schon vorbei mit der One Note und es stellt sich heraus, dass es gar nicht um Töne geht.

Now this new note is the consequence of the one we’ve just been through.
As I’m bound to be the unavoidable consequence of you.

 
 

Stacey Kent – One Note Samba

 
 

Mir geht es aber um Töne und die Frage, ob es überhaupt One Note Musikstücke gibt, wenigstens eines. Ich kenne keines. Ich weiß, dass ein Komponist ganz nahe dran war. Er entwarf immerhin ein Two Note Piece. Die Composition 1960 #7 besteht nur aus den zwei notierten Tönen h und fis mit der Interpretationsanweisung »to be held for a long time«.

One Note Samba ist Pop. Deshalb kann ich verstehen, dass nach 19 Sekunden Schluss ist mit One Note. LaMonte Youngs Composition #7 ist nicht Pop. Hier geht es um etwas anderes. Wahrscheinlich ahnt man das erst, wenn man drei Stunden oder länger zuhört. Der Mix mit The Tamburas of Pandit Pran Nath ist von wunderbarer Wirkung.

 
 

LaMonte Young – Composition 1960 #7

 
 

Es kann ja sein, dass es nicht ein einziges One Note Piece gibt. Jedoch gibt es Musik, in der ein One Note Ton aus verschiedenen Gründen eine besondere Rolle spielt, zum Beispiel deswegen:

 

About this brief chanson an amusing story is recounted by the Swiss monk Glareanus in his compendious text book the Dodecachordon (1547).

Louis XII, the French King, is said to have a very inadequate voice. He once asked Josquin if there was anyone who would compose a song in several voices in which he could also sing some part. Josquin, wondering at the demand of the King, whom he knew to be entirely ignorant of music, hesitated and finally decided what he would answer. „My King“ he said „I shall compose a song in which your Majesty will also be given a place in the singing.“ The following day, after he had breakfast and was to be refreshed with songs, according to royal custum, Josquin produced his song in four voices, composed so that the exceedingly thin voice of the King should not be drowned out. He had given the King, in a range that would be suitable to the royal voice, a part consisting of just ONE NOTE … The King laughed merrily at the trick and gladly dismissed the composer with a present.

 

Josquin Desprez – Guillaume se va chaufer

 
 

Man sieht, King’s Singers gab es schon im 16. Jahrhundert. Die King’s Singers des 20./21. Jahrhunderts haben es Josquin nachgemacht. „Blackbird“ statteten sie aus mit einer „Regis Vox“, einer königlichen Stimme, verweilend auf dem Ton g. Ich stelle mir vor, der Ton war für Queen Elizabeth gedacht, falls ein noch lebender Beatle zum Ritter geschlagen und die Ehrung mit einem Gstanzl gefeiert wird.

 
 

The King’s Singers – Blackbird

 

Als Zugabe gibt es eine wahrhaft geniale Fassung von Brad Mehldau

 

Brad Mehldau solo – Blackbird

 
 

 
 

In den letzten Wochen habe ich Maurice Ravels „Gaspard de la Nuit“, eines meiner Lieblingswerke weltweit, sehr oft angehört. Es sind drei Poems nach Gedichten von Aloysius Bertrand (1807 – 1841) – Ondine, La Gibet, Scarbo. Das zweite ist eines der irrsinnigsten One Note Stücke.

 

DER GALGEN
 
Horch! ist’s eine nächtige Windsbraut, die winselt,
oder hat der Gehenkte am Galgen geächzt?

Ist es ein zirpendes Heimchen, das sich im Moos und im kargen Efeu verbirgt,
womit sich das Holzgerüst mitleidig den Fuß bekleidet?

Ist’s eine Schnake auf Jagd, die das Horn bläst um die Ohren,
die taub sind für das Halali der Jagd?

Ist es ein Schröter, der auf seinem schwankenden Flug
von diesem kahlen Schädel ein blutiges Haar zwackt?

Oder ist’s eine Spinne, die eine halbe Elle Musselin
als Tuch für diesen erdrosselten Hals wirkt?

Es ist die Glocke, die an die Mauern einer Stadt unterm Horizont schlägt,
und das Gerippe eines Gehenkten, das die untergehende Sonne rötet.

 

Maurice Ravel – Gaspard de la Nuit, Le Gibet

 
 

Nun gibt es doch ein One Note Piece, das so gut, so außergewöhnlich ist, dass es NICHT auf youtube verfügbar ist. Im besten Fall besitzt man das Album oder verfügt wenigsten über einen Spotify Account für den unmittelbaren Zugriff.

 

Keith Jarrett – Sun Bear Concerts, Encore from Sapporo

 

Die Zugabe trägt ständig den Ton C mit sich bis dieser gegen Ende etwa zwei Minuten lang in fast völliger Einsamkeit zurück bleibt und zu bestaunen ist als facettenreicher Einzelgänger. Man höre hinein. Er steckt voller Töne, die den schönen Namen harmonies tragen.

2020 31 Mai

heute

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2020 21 Mai

heute

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