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2018 4 Apr

Spotify

von: Jan Reetze Filed under: Blog | TB | 1 Comment

In einem anderen Forum, in dem ich mich gelegentlich herumtreibe, wurde auf diesen Artikel aus der Berliner Zeitung hingewiesen. Es geht darin um Spotify und die damit verbundene „ästhetische Verarmung“ der Musik — die jedenfalls behauptet der Artikel. Die daraufhin in dem Forum geposteten Kommentare veranlassten mich zu dem folgenden Kommentar, den ich jetzt einfach mal hier hineinkopiere:
 
 

Ein bisschen ist der Artikel wieder mal die alte „früher, als alles noch aus Holz war“-Nummer. Dabei steht der Schlüsselsatz eigentlich schon im ersten Absatz: „Hörgewohnheiten“ ist das Stichwort. Ganz genau: Neue Technologien verändern Gewohnheiten.

Das war nun aber noch nie anders und hat einfach damit zu tun, mit welchen Medien man aufwächst. Und dadurch verändert sich der Maßstab dessen, was man für „normal“ oder „richtig“ hält. Ich hatte hier an der Uni zeitweilig einen Lehrauftrag für Media History. Daraus habe ich z.B. die Erkenntnis mitgenommen, dass die Kids ihre Geräte zwar voller Musik haben, dass sie davon aber mindestens die Hälfte nie gehört haben und auch nie hören werden. Und das, was sie hören, das hören sie sich nicht mal vollständig an, sondern nach dem ersten Refrain springen sie ins nächste Stück. Die Popmusik, die heute produziert wird, ist so standardisiert, dass die sich das auch gar nicht mehr anhören müssen — die wissen schon aus ihrer Hör-Erfahrung, wie das Stück weitergeht. Was sie nicht mehr wissen, ist, dass die Musik der Schwarzen mal der Jazz gewesen ist, sondern die glauben, dass das schon immer Hip-Hop war. So, wie für die auch Andy Warhol schon immer tot war. Und das ist doch auch ganz normal so. Hab ich mich, als ich 18 war, vielleicht ernsthaft mit der Musik beschäftigt, die meine Eltern gehört haben, als sie 18 waren?

Und unsere Generation sollte sich vielleicht immer mal wieder klarmachen, dass das, was wir hören (und wie wir hören), auch kein Naturzustand ist. Prog z.B. mit ellenlangen Stücken entstand nicht deshalb, weil irgendein Musiker mal das Gefühl hatte, lange Stücke machen zu wollen, sondern weil sich im US-Radio Ende der 60er Jahre zusätzlich zur Top-40-Mittelwelle auch UKW ausgebreitet hat, und damit war es plötzlich möglich, akustisch anspruchsvollere Musik im Radio zu spielen. Die fand man aber nicht auf Singles, sondern auf LPs. Und nachdem es mal möglich war, ganze LP-Seiten im Radio zu spielen, kamen dann auch Produzenten und Musiker auf die Idee, die Dreiminutengrenze zu verlassen und ganze LP-Seiten vollzuspielen, die dann auch tatsächlich gesendet werden konnten. Daraus haben sich ganz neue musikalische Strukturen entwickelt, die es vorher überhaupt nicht gab. Deswegen glaube ich, dass die neuen Technologien nicht nur alte Entwicklungen zerstören (das kann passieren), sondern auch neue hervorbringen. Die sind vielleicht dann ungewohnt und zunächst mal unbequem, wenn man geistig auf die Struktur von LPs geeicht ist, aber vielleicht lohnt es sich ja doch.

Auch auf Spotify übrigens bleibt es nach wie vor jedem selbst überlassen, sich ein Album komplett anzuhören, in der Tracksequenz, die der Künstler vorgesehen hat. Er muss das Album dann aber auch so gestalten, dass es den Hörer packt. Das in dem Artikel genannte Beispiel Netflix zeigt das sehr schön. Niemand sieht sich einen Film oder eine Serie an, weil sie auf Netflix läuft, sondern vor allem mal deshalb, weil sie gut ist, weil sie die Zuschauer packt. Dass heutige Serien dramaturgisch horizontal (die Serie erzählt eine durchgehende Story) funktionieren und nicht mehr vertikal (jede Folge eine in sich abgeschlossene Episode), hat wieder damit zu tun, dass wir sie heute dann abrufen können, wann wir wollen und nicht nur eine Folge pro Woche läuft.

Also bitte mal nicht ganz so pessimistisch. Ein echtes Problem ist allerdings die Verteilung der Tantiemen. Dass die beteiligten Künstler mit Centbeträgen abgespeist werden, ist nicht in Ordnung und muss sich ändern. Dann hat allerdings Spotify ein Problem: Dann ist es nämlich zu billig. Drei Viertel ihrer Einnahmen gehen jetzt schon an die Rechteinhaber. Wenn man deren Anteil weiter erhöhen will, gleichzeitig aber die Teilnehmerzahlen gesteigert werden sollen (was teurere Technik erfordert), dann landet man genau da, wo die jetzt eingestiegen sind: an der Börse. Und das kann noch ganz schön nach hinten losgehen.

Was mich übrigens viel mehr beunruhigt, das sind so Firmenkonstrukte wie Live Nation und Ticketmaster, die die Musikbranche inzwischen viel stärker beherrschen als es die Plattenfirmen jemals getan haben. Dazu habe ich vor ein paar Tagen einen Artikel in der New York Times gefunden …

Ist ein neues Thema, aber vielleicht auch mal eine Diskussion wert.

 

This entry was posted on Mittwoch, 4. April 2018 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

1 Comment

  1. Uli Koch:

    Dass sich mit der Veränderung der Umgebungsbedingungen und der Verfügbarkeit die Hörgewohnheiten verändern ist ein gut bekannter Punkt. Leicht lässt sich vorstellen, dass ein Mensch, der vor 400 Jahren nur einmal die Woche, wenn überhaupt, Musik hörte dazu ein anderes Verhältnis entwickeln musste als der heutige Hörer im ständig überlaufenden Vollbad des Überflusses. Insgesamt wird wahrscheinlich noch nicht einmal weniger ästhetisch anspruchsvolle Musik (was immer man darunter verstehen mag) produziert, sondern wesentlich mehr (sorry!) harter Schrott, der sicherlich auch über Spotify weite Verbreitung finden könnte. Tut er aber nicht, wie Du ja völlig richtig anmerkst: dieses Zeug wird spätestens nach dem ersten Refrain weggedrückt, weil es keinen ausreichend andersartigen Hörreiz setzen kann und auch die heutige Generation langweilt. Habe ich aber nicht umgekehrt genau durch das durchklicken die unglaubliche Möglichkeit gerade aus der Masse hinsichtlich meines Geschmacks und meines persönlichen Chill-Faktors individualisiert die Rosinen herauszupicken. Habe auf diesem Weg schon viel gefunden, was ich sonst vielleicht noch nicht einmal angeschaut hätte, geschweige denn gewusst hätte, dass es diese Perlen überhaupt gibt.

    Ergo: verarmt ist, wenn überhaupt der einzelne Hörer, der nicht den Weg findet mit dem vorhandenen Angebot umzugehen …


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