Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2017 1 Jul

Pictures of an arcane exhibition

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Comments off

Das Zimmer war 9,8 oder 10,3 Quadratmeter groß und alle Möbel waren weiß. Ich hasste weiße Möbel, aber da war nichts zu ändern. Sie waren fest verschraubt, jedenfalls größtenteils. Die Regalbretter waren an drei Metallleisten angebracht (auch sie waren weiß) und in ihrer Höhe verstellbar. Wer das Zimmer betrat, stand direkt vor dem Waschbecken und dem Kleiderschrank, der unten eine ausziehbare Schublade auf kleinen Rädern hatte (wahrscheinlich für Schuhe) und oben eine Ablage, vielleicht für den Koffer, mit dem man hier einzog. In einer Seitenablage in diesem Schrank fand ich die Mappe mit den Bildern. Es war der einzige persönliche Gegenstand, den jemand hier zurückgelassen hatte oder einfach vergessen.

In der Stadt, in der ich vorher gewohnt hatte, hatte ich an einem Zeichenkurs teilgenommen. Wir saßen in einem Raum im Neonlicht, jeder sollte einen Gegenstand aussuchen und ihn abzeichnen. Ich wählte eine seltsame marionettenhafte Figur mit großem Kopftuch und Händen und Füßen aus Holz. Ich habe diese Zeichnung noch, ein kleines Bleistiftgebiet. Der starre Blick leerer Augen ins Nichts. Klobige Hände, an einem Faden gehalten. Der Faltenwurf des kuttenartigen Kleides. Ich hatte das Bild meinem damaligen Freund gezeigt, er sagte nichts dazu.

In der Oberstufe konnten wir zwischen Musik und Kunst wählen, wir mussten nur einen Kurs weitermachen. Meine Erinnerungen an den Musikunterricht: so gut wie keine. In der fünften Klasse sangen wir, die wir gerade Latein lernten, „What shall we do with a drunken sailor?“. Das kannte ich von meinem Bruder, der einen Hang zu Abenteuerfilmen hatte, in denen Seefahrer, die die Regeln missachteten, ausgepeitscht wurden. Sie mussten die Zahl der Peitschenhiebe mitzählen, bis sie bewusstlos wurden. Später hörten wir (jetzt wieder im Musikunterricht) komplizierte Musikstücke und lasen die Partituren mit. Musiklehrer waren immer unglückliche Menschen, sie trugen all die fehlerhaften Flötenspiele in sich, all die Anfänge auf der Geige, die sie ertragen mussten. Unser Kunstlehrer trug einen anthrazitfarbenen Kittel und er hatte weißes wirres Haar. Was mir an seinem Bewertungsschema gefiel, war, dass es nicht auf Genauigkeit anzukommen schien. Mein Problem war nämlich die Genauigkeit. Das konnte ich viel zu gut. Was mich reizte, das war das hingehuschte Bild, es war der Wurf aus dem Unterbewussten, das Irreale, nicht das Brave.

Die Mappe enthielt Linoldrucke, Kaltnadelradierungen, Zeichnungen mit Tusche und Bilder aus Wasserfarben, Vorstufen zu Bildern, Skizzen, in denen Felder markiert und mit Farbbezeichnungen wie „ultramarin“ oder „only black“ gekennzeichnet waren. Die Motive: Bäume, ein klassisches Radiogerät, Szenen aus einem Café oder aus einer Bar.

Eine meiner Freundinnen hatte im Kunstunterricht großflächige Bilder gemalt, von denen der Lehrer hingerissen war. Ein Frauenkopf im Stil von Lichtenstein oder Warhol, in knalligem Rot. Das Bild hing in ihrem Zimmer, über dem Klavier. Sie wurde an der Kunsthochschule angenommen und wurde Kunstlehrerin an einem Gymnasium, später Schuldirektorin.

Linoldruck, schwarz, mehrfach vorhanden: Der Kopf eines afrikanischen Kindes, um den die Hände eines Erwachsenen liegen.

Eine andere meiner Schulfreundinnen zeichnete freundliche Monster in blau. Ich besuchte sie in einer Kleinstadt, in der sie ihre beiden Kinder aufzog, die Monster hingen über dem Wickeltisch und winkten. Weil ihr die Kinderbücher, die es auf dem Markt gab, nicht gefielen, machte sie Monstercomics. Eins ihrer Kinderbücher, in dem es um die Entwicklung eines Monsterkindes zum Comiczeichner ging, gewann den kids explanation award.

Das Hochhaus hatte 17 Stockwerke. Genauer gesagt waren es zwei Hochhäuser. Zwillingstürme. Sie wurden die Sprungtürme genannt, weil sich immer mal wieder jemand aus dem Fenster warf oder vom Dach sprang. Es gab eine Dachterrasse mit einem Ausblick auf die Autobahn.

Ich entdeckte das Datum auf den Bildern erst spät. Es war mit Bleistift eingezeichnet. Tag, Monat, Jahr. Es waren Jahre, in denen ich noch nicht einmal in der Grundschule war.

Nachdem ich eigentlich schon damit aufgehört hatte, zu zeichnen, fing ich wieder damit an. Das Zeichnen war für mich Ausdruck eines Mangels an Worten. Ich begann damit, Strichfiguren zu zeichnen, mit einem feinen schwarzen Stift.

Die Bilder wurden ausdrucksstärker, bunter, die Konturen gewagter, weniger naturalistisch. Man musste Abstand halten, um die Szenerie zu erkennen. Der barmherzige Samariter. Wie er sich in einem türkisblauen Umhang über den Kranken beugte, auf Packpapier.

Eine Frau sitzt auf einem Barhocker und schaut in die Wüste. Selbstportrait in schrägen Perspektiven: Die Malerin mit wirrem Haar über den Tisch gebeugt, die Palette in der einen Hand, den Pinsel in der anderen, ein spontaner Akt, die Bewegung des Unterbewusstseins spürbar. 4/75. Wow.

Mein Ziel war es komplett loszulassen. Die Kontrolle aufgeben. Das war nicht planbar, nicht lernbar. Genau das reizte mich daran. Ich respektierte nichts, was man durch Fleiß lernen konnte.

Ich träumte noch viele Jahre von diesem Haus. Von Aufzügen, die meilenweit nach oben rasten. Von Zimmern ohne Dach. Davon, wie ich einen Platz suchte, an dem ich einfach lesen konnte, ungestört. Dann war es doch wieder ein Durchgangszimmer mit Blick auf den Parkplatz.

Plötzlich waren sie da. Die Figuren begannen sich fortzubewegen. Sie liefen einfach davon.

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