Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

tryptichon
 
läufer navigieren im netzplan: schneller als paranoia,
langsamer als der nachmittag. hackysack, gitarre, tiger,
springer durch glühende reifen, gelungene reproduktion

wir

hinterlassen geblümte tüten, der grill hat es hinter sich.
im diagramm aus stahlrohr und holz: kinder. im andern
aus patchwork und schattenriss: eltern. eine tangente

abdel

spricht arabisch, französisch und facebook. unter der stadt
autobahn herrscht stille. oder die taubheit am fluchtpunkt.
andere inseln betreten, schnittmenge, foul im strafraum:

ich
 
 
aus: Judith Hennemann: Bauplan für etwas anderes. Gedichte. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt 2017
 
 
 

 
 
 

Martina Weber: Dein Gedicht „tryptichon“ steht aufgrund seines Titels in der Tradition des Gemäldegedichtes. Das klassische Gemäldegedicht nimmt seinen Ausgangspunkt bei einem Gemälde, es kann sich aber nie in dessen Beschreibung erschöpfen, sondern entwickelt etwas eigenes und kann für sich stehen, auch wenn der Leser, die Leserin das Gemälde, auf das das Gedicht sich bezieht, nicht kennt. „tryptichon“ funktioniert wie ein Wimmelbild, ich kann bei jedem Lesen auf den drei Gemäldetafeln andere Bilder sehen, auch wenn „wir“, „Abdel“ und das lyrische Ich durch die Hervorhebungen im Text vielleicht von dir als zentralen Elemente der drei Gemäldeteile angedacht wurden.

In deinem Gedicht schaffst du es, in wenigen Zeilen verschiedene Stimmungen anzuschlagen. Den Begriff „gelungene reproduktion“ könnte man in Anbetracht der Patchworkfamilie auch ironisch lesen und ich denke auch daran, dass es Frauen gibt, die den Vater ihrer Kinder nach Genpoolkriterien auswählen. Auch das Bild der geblümten Tüten als Hinterlassenschaft nach einer Grillsession mit einem Einmalgrill finde ich witzig. Ich mag auch solche kühlen Begriffe wie „tangente“. Der Name Abdel bringt eine politische Ebene ein. Es wird zwar klar, dass Abdel ein Araber ist, aber ob es einen Bezug zur „taubheit am fluchtpunkt“ gibt, bleibt offen. Diese Passage kann sich auch auf das lyrische Ich oder das lyrische Wir beziehen. Dein Gedicht ist also nicht nur ein Wimmelbild, sondern funktioniert auch noch wie ein Kaleidoskop. Kann sein, dass manche Lesende, die klare Bilder und eindeutige Bezüge brauchen, damit überfordert sind. Mich stört es nicht, ganz im Gegenteil. Eindeutigkeiten langweilen mich, sie lösen in meinem Gehirn nichts aus. Abdel kann auch Teil der Patchworkfamilie sein, Jugendlicher oder Erwachsener, möglich ist es aber auch, dass sein „fluchtpunkt“, also das Ende seiner Flucht, unter der Stadtautobahn liegt, Taubheit in den Füßen. Manchmal sehe ich auf einem der Triptychonbilder auch den Grill unter der Stadtautobahn und spüre das Ende der Patchworkfamilie (die „taubheit am fluchtpunkt“). Der Hackysack, die Tiger und die glühenden Reifen lassen mich an einen zurückliegenden Zirkusbesuch denken oder an die Vorstellung eines Zirkusbesuchs, als eingeblendetes Blitzlicht.

Sehr gefällt mir die letzte Zeile, die mit der schönen Passage „andere Inseln betreten“ beginnt. Die Passage passt zum Araber, der einen anderen Kontinent aufgesucht hat, aber auch zu einem Teil einer Patchworkfamilie oder auch zum lyrischen Ich, falls es nicht Teil der Patchworkfamilie ist (was offen bleibt). Der italienische Lyriker Filippo Tommaso Marinetti schrieb in seinem Technischen Manifest der Futuristischen Literatur: „Man muss das Verb im Infinitiv gebrauchen, damit es sich elastisch dem Substantiv anpasst und es nicht dem >Typ< des Schriftstellers unterwirft, der beobachtet oder erfindet. Das Verb im Infinitiv kann einzig den Sinn der Fortdauer des Lebens und die Elastizität der wahrnehmenden Intuition geben.“ Für die letzte Zeile deines tryptichons passt der Infinitiv perfekt. – Was meinst du zu meinen Eindrücken?

 

Judith Hennemann: Ich kann deinen mehrperspektivischen Blick auf das Gedicht sehr gut mitgehen: Du näherst dich literaturtheoretisch, assoziativ, über Bilder vor deinem inneren Auge und aus der Erinnerung, gesellschaftspolitisch und sogar mit einem technischen Modell (nämlich dem Kaleidoskop) dem Text an und nutzt damit das ganze Spektrum der Lesarten, die Lyrik bietet. Mehrdeutigkeit ist ein wichtiges Prinzip meiner Gedichte, denn nur so entsteht Raum für den Leser, für seine eigene Auslegung und emotionale Resonanz.

Ein Park in der Großstadt, in dem tryptichon verortet ist, bietet hierfür eine prima Grundlage. Nimm etwa den Begriff „Patchwork“: Er bezeichnet die Herausforderungen moderner Familien, kann aber auch für eine Picknickdecke stehen. Oder das „Foul“ im Strafraum. Wenn du es nur hörst, kann es bedeuten, dass ich zu faul bin mitzuspielen. Es kann eine verpasste Gelegenheit sein: Kein Tor. Könnte aber auch sein, dass ich enttäuscht worden bin, eben gefoult wurde. Es geht um Beziehungen, um Identität. Abdel könnte eine Person sein, die ich im Park getroffen habe, aber er ist auch ein Bild für mein eigenes Fremdsein in dieser Stadt. Ich verwende Begriffe aus der Geometrie wie die Tangente und den Fluchtpunkt, um diese Interpretationsräume aufzuspannen und mich darin zu bewegen.

Nun zu deinem Marinetti-Zitat: Der Infinitiv ist für mich nicht wertvoller oder poetischer als jede andere grammatische Form. Mir gefällt aber der von Marinetti verwendete Begriff der Elastizität von Verben im Infinitiv sehr gut, weil er mehr Bewegungsfreiheit für den Leser ermöglicht. tryptichon profitiert von dieser Option.

 

Martina Weber: Wie gehst du vor, wenn du ein Gedicht schreibst? Entsteht es eher schnell oder wächst es allmählich? Wie entstand dein „tryptichon“?

 

Judith Hennemann: Das ist sehr unterschiedlich und hängt vom Ausgangspunkt des Gedichts ab, der wie ein Funke wirkt. Ich betrachte den Funken und schaue, wie ich ihn anfachen kann. Manche Gedichte – wie etwa tryptichon – entstehen aus Situationen oder Erlebnissen. Ich nenne sie ein wenig despektierlich „Ein-Euro-Gedichte“. Das bedeutet, dass sie mir zufliegen, sagt aber nichts über die Qualität der Gedichte aus: Mal gelingt der Wurf, und manchmal eben nicht. Dann gibt es Gedichte, die mit emotionalen Erfahrungen zu tun haben: Unglückliche Liebe, individueller Schmerz. Das braucht eine geklärte Haltung und ein Feilen an der Sprache, um sie nicht zu überfrachten. Gesellschaftsbezogene, aktuelle, politische Gedichte erfordern häufig echte Recherche, eine thematische Annäherung. Viele meiner Gedichte entstehen aus der Sprache selbst. Ein Begriff wie „wearable“ wirkt auf mich zum Beispiel als Funke, oder ein Torpedoträger mit dem Namen „Schneewittchen“, den ich in Peenemünde sah.

Häufig stelle ich fest, dass der Funke am Ende des Gedichts gelöscht werden muss, damit es funktioniert. Das kann etwa bedeuten, dass ich auf die erste Zeile oder sogar Strophe verzichte, bestimmte Adjektive oder Substantive herausnehme. Der Funke überstrahlt sonst den Text, oder aber er ist redundant geworden. Ich arbeite im Schnitt 2-4 Tage an einem Text. Dazu gehört auch das Feedback meines Freundes Peter Kapp, der ein erfahrener Lyriker ist.

 

Martina Weber: Die Gedichte in deinem Band Bauplan für etwas anderes sind teilweise in normaler Rechtschreibung und teilweise hast du durchgehend Kleinschreibung verwendet. Die Kleinschreibung kann verschiedene Gründe haben, einer davon ist der, die Hierarchie zwischen Wörtern, die normalerweise groß geschrieben werden, und denen, die nicht groß geschrieben werden, zu zerstören. Ein anderer Grund ist der, dass durch Kleinschreibung und fehlende Zeichensetzung Mehrdeutigkeiten im Text erzeugt werden können. Ein Beispiel in deinem Gedicht ist die Passage: „unter der stadt/autobahn herrscht stille“. Die funktioniert eher in Kleinschreibung. Welche Gedanken hast du dir zu dem Thema der Groß- und Kleinschreibung in deinem Gedichtband gemacht? Gab es auch die Überlegung, die Gedichte in dieser Hinsicht einheitlich zu gestalten?

 

Judith Hennemann: Du schreibst ja in Deinem Fachbuch Zwischen Handwerk und Inspiration. Lyrik schreiben und veröffentlichen, dass man „viel Zeit und Geduld“ braucht, um seinen Ton zu entwickeln, und zitierst in diesem Zusammenhang Horaz, der 9 Jahre veranschlagte. Anfangs war ich so fasziniert von den zahllosen Optionen, die sich allein durch das Weglassen eines Kommas ergeben können, dass ich regelrecht in der Sprache herumgeplanscht bin. Der Bauplan-Band beinhaltet einen starken Suchprozess, das macht ihn als Debüt auch aus. Heute halte ich mich strikt an die offizielle Groß- und Kleinschreibung, verwende korrekte Interpunktion und Rechtschreibung. Ich fahre sehr gut damit, weil die Texte schon allein optisch eine klarere Sprache sprechen. Ich schließe aber nicht aus, dass sich das auch mal wieder ändert.

 

Martina Weber: Nochmal zur Schlusspassage im „tryptichon“: „andere inseln betreten, schnittmenge, foul im strafraum: // ich.“ Auch hier sind verschiedene Bezüge denkbar und mir gefällt das Freche, die Grenzüberschreitung durch das Foul im Strafraum. Ausgerechnet am Abend des zweiten Manafonistastreffens am 27. Mai in Münster läuft das DFB Pokalfinale, Borussia Dortmund gegen Eintracht Frankfurt und einige meiner Kollegen hier auf dem Blog und meine einzige Kollegin Lajla wollen das Spiel unbedingt sehen. (Du hörst meine fehlende Begeisterung darin.) Bist du, als zugereiste Frankfurterin, Eintrachtfan?

 

Judith Hennemann: Ich würde mich als wohlwollend neutral bezeichnen, was Fußball betrifft. Samstagabend läuft bei uns zu Hause die Sportschau, und wenn ich meine beste Freundin am Wochenende sehen will, muss ich ins Stadion oder – bei Auswärtsspielen – in die Fußballkneipe. Ich ziehe die Fußballkneipe vor und habe mir eine Art opportunistische Halbbildung draufgeschafft, um wenigstens hin und wieder was zur Konversation beitragen zu können. Mit dir über Literatur zu reden macht aber mehr Spaß :-).

 

Martina Weber: Dann lass uns das Aufnahmegerät abschalten und noch einen Kaffee bestellen. Die Spesen übernimmt das Manafonistas Head Quarter.

 
 
Nächste Lesung mit Judith Hennemann:

  1. Mai 2017, 20.30 Uhr

Gemeinsam mit Martina Weber

Musik: Ro Gebhardt (Jazzimprovisationen auf der Gitarre)

Moderation: Stephan Enders

Milchsackfabrik, Gutleutstraße 294, 60327 Frankfurt am Main

 

Mehr von Judith Hennemann im Netz gibt es auf Facebook und hier: https://www.fixpoetry.com/autoren/literatur/feuilleton/judith-hennemann
 
 
 

 

This entry was posted on Montag, 1. Mai 2017 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

9 Comments

  1. Jochen (MHQ):

    „Please bill two coffees for the ladies!“

    Bin jetzt auch nicht soo pokalfixiert, erstens spielt Werder nicht mit und zweitens schaue ich Fussball generell lieber alleine – der Konzentration wegen.

    Vielleicht schlendert man durch Münster und sucht den liderlichen Liederdieb … ;)

  2. Martina Weber:

    Klar, das machen wir :)

  3. Lajla:

    In der ersten Halbzeit verfolge ich das diebische Lied mit in the streets of Münster.

  4. Michael Engelbrecht:

    Ich wusste gar nicht, dass es das Wort „Gemäldegedicht“ gibt und ein Subgenre des weiten Felds der Gedichte suggeriert. Ein spannendes Gedicht übrigens,

    Ich kenne dagegen aus der Prosa Gemälderomane, und nun auch Gemäldegeschichten.

    „Autumn at the Automat” – In Sunlight or in Shadow by Lawrence Block (Pegasus Books) – diese Short Story schoss den Vogel ab der diesjährigen Edgar Winners. Zu diesem Projekt versammelte Lawrence Block 17 nahmhafte Thrillerautoren und liess sie jeweils eine Short Story zu einem Gemälde von Edward Hopper schreiben. Natürlich sind die jeweiligen Bilder in Farbe abgedruckt, im November erschent diese feine Idee dann in der deutschen Ausgabe.

  5. Judith Hennemann:

    Danke für den Buchtipp mit dem vielversprechenden Namen „Autumn at the Automat“!
    Gedichte über Kunstwerke laufen Gefahr, ein bisserl über-abstrakt zu sein. Dann lieber Thriller!

  6. Martina Weber:

    Short Stories oder Thriller zu Gemälden von Edward Hopper würde ich auch gern lesen. Das ist eine super Idee. Vor allem wäre es interessant, verschiedene Storys zum gleichen Gemälde zu lesen.

    Es gibt viele faszinierende Gemäldegedichte. Gerade die Gemäldegedichte sind meistens sehr anschaulich.

    Ich bin erstmals auf dieses Subgenre durch einen großartigen Radioessay im Deutschlandfunk aufmerksam geworden. „Das Gedicht lebt in den Zwischenräumen der Bilder. Über das Verhältnis von Kunst und Poesie.“ Ein Radioessay von Christel Mertens vom 4.11.2005. Ich habe ihn auf Audiokassette und bringe ihn dir mal mit, Judith, notfalls auch mit einem Kassettenrecorder, falls du keinen mehr hast. Audiokassetten eignen sich inzwischen ja bestens für Geheimbotschaften. Es sind großartige Gemäldegedichte im Beitrag, z.B. von Thomas Kling, Jan Wagner, Tomas Tranströmer und Friederike Mayröcker („und denken von pfoten, spleen“, ich habe hier sogar noch das Notizbuch, in das ich ein paar Seiten mit handschriftlichen Notizen zu diesem Radioessay gemacht habe…)

    Und im Jahr 2016 erschien beim Wunderhorn Verlag ein Band mit Gesprächen, die Michael Braun mit einigen Lyrikern geführt hat, hier der Titel:
    Die zweite Schöpfung: Poesie und bildende Kunst: Michael Braun im Gespräch mit Klaus Merz, Nico Bleutge, Gerhard Falkner, Marcus Roloff, Silke Scheuermann.

  7. Judith Hennemann:

    Immer her damit, ich lasse mich nur zu gerne überzeugen :-).

  8. Paula C. Georges:

    kenntnisreiches Interview beiderseits

  9. Martina Weber:

    Für die Münchner Anthologie des Literaturportals Signaturen Magazin habe ich – jenseits dieses Interviews – eine Besprechung zu Judiths Gedicht geschrieben. Hier ist der Link zu dieser Besprechung:
    signaturen-magazin.de/judith-hennemann–tryptichon.html


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz