Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Es gibt Manafonistas, die sich ihre Lieblingstitel der Christoph Meckel´schen Bücher wie virtuelle Zettel hier auf dem Blog hin und her reichten. Souterrain. Säure. Licht. Nun ist im Frankfurter Gutleut Verlag ein neuer Band erschienen. Für Clarisse. Den musst du noch mitnehmen, sagt der Verleger, Michael Wagener, und ich schlage das Buch irgendwo auf. „Wir gingen im Schnee, und suchten nichts. / (…) / Ich fragte Clarisse, sie gab keine Antwort.“ Wieder Liebesgedichte an eine verschwundene Frau? Nein, Clarisse ist Kind ohne Herkunft, eine Kunstfigur, wie jedes lyrische Ich, und jedes lyrische Du. Clarisse ist zwischen fünf und 16 Jahre alt, sie wächst mit Gedichten und Zeichnungen auf, die Christoph Meckel seit Jahren für sie anfertigt. Immer altersgerecht, ein Spiel mit den Wochentagen, Bonjour. Und du? Ein Sandkorn im Schuh, ein Lachen, ein Kirschkern, ein Baum. Aber. Es ist keineswegs eine Idylle. „Spielplätze für Clarisse, verschollen im Schnee.“ Später die Ringe, die Schuhe, die Kleider. Meine Kleine, das hat dir die Zeit genommen. Skizzen aus der Palette des Lebens mit einem Kind, einem Mädchen, einer Jugendlichen. Die Sätze scheinen einfach. Die Wörter, die verwendet werden, sind nicht kompliziert. Christoph Meckel ist nah am Material, sehr nah. So wie auch bei seinen Radierungen, er wechselt zwischen dem Zeichnen und Schreiben, und das sehr schön gestaltete Buch enthält 18 Radierungen in einem beträchtlichen aufklappbaren Mittelteil. Dass man seine eigene Biographie akzeptieren muss, sagte Christoph Meckel im Jahr 2006 in einem Gespräch, das irgendwo auf youtube zu finden ist. Und er weiß auch: Manche Gedichte hat er Clarisse zu früh gegeben. Und manche in dem Band sind nicht nur zu schwer für eine 16-Jährige. Die Geister. Die Leerstellen. Ein Durchdeklinieren des Motivs des Verschwindens. Hier werden Zonen betreten, in die sich nicht jede traut. Hier tut es weh.

 

Kuckuck

 

Ich hab meinen Kuckuck

zur Abdeckerei gebracht.

Er ruft nicht mehr, sage ich

stecht ihm ins Herz

mein alter Kuckuck singt nicht mehr schneidet die Kehle.

 

Auf der Straße

ins Jenseits meiner Toten

wo, hinkend auf tonlosen Hufen, Karrengäule

betteln um Hafer

spricht auch mein Kuckuck und ruft

ohne Zorn meinen Namen.

 

Stecht ihm ins Herz

und schneidet die Kehle

stecht ihm ins Herz, er singt nicht mehr

rief ich und ging

meiner Wege pfeifend.

This entry was posted on Samstag, 12. Dezember 2015 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

6 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Ein neues Lebenszeichen von Herrn Meckel, wunderbar.

    Und ein Text, der Vorfreude weckt.

  2. Martina Weber:

    Das Gedicht, das ich ausgewählt habe, ist eher untypisch für das Buch. Ich finde das Gedicht sehr erschreckend, mir wird eiskalt, wenn ich es lese – okay, ich bin keine Thriller-Leserin. Es ist eine Kaltblütigkeit dem Kuckuck (der ein Symbol ist) gegenüber. Der Kuckuck tut nicht das, was das lyrische Ich von ihm verlangt, er redet nicht. Und deshalb muss er sterben. Das lyrische Ich akzeptiert den Kuckuck nur, wenn er redet. In der zweiten Strophe ist er tot. Und er befindet sich in einem Jenseits, wo sich auch die anderen vom lyrischen Ich verstoßenen Gestalten aufhalten, zum Beispiel der Karrengaul, dessen Hufe abgewetzt also funktionslos sind (tonlos) und der hinkt, also auch nicht funktioniert. Und jetzt, in diesem Jenseits, spricht der Kuckuck wieder, und dass er den Namen des lyrischen Ich spricht, bedeutet, so deute ich es, dass er dem lyrischen Ich verzeiht, dass es ihn getötet hat. Das ist ein großer menschlicher Akt eines Toten. Ein christliches Motiv, aber man kann es auch einfach nur ethisch sehen, ohne Religion. Die dritte Strophe knüpft an der ersten an. Sie ist in der Vergangenheit geschrieben. In Anbetracht des Todes des Kuckuck kommt der wiederholt geschilderte Wunsch des lyrischen Ich, der Kuckuck müsse sterben, noch grausamer und kaltblütiger daher, zumal das lyrische Ich pfeifend, also glücklich, davongeht. Das lyrische Ich bereut nichts, obwohl des das Rufen des Kuckucks noch gehört hat (denn das Gedicht ist aus der Ich-Perspektive geschrieben).

    Ein weiteres Motiv ist die Ungleichzeitigkeit. Es gibt im Altgriechischen ein Wort für den richtigen Zeitpunkt. kairos, heißt es, auf der letzten Silbe betont. Ih würde gern mal einen Lexikonartikel über das Wort lesen, es hängen mit diesen Begriffen immer Teile des typisch antiken Weltbildes zusammen.

    Das Gedicht ist aber doch insofern charakteristisch für den Band, als alle Gedichte diese Hintergründigkeiten aufweisen und keineswegs als leicht zu lesende und schnell wegzulegende Ware für Kinder funktionieren.

    Mich erinnert das Gedicht an eines von Sarah Kirsch. Ich wollte meinen König töten. Ich habe vor vielen Jahren eine Interpretation dieses Gedichtes gelesen, die mich umgehauen hat, von Franz Fühmann, glaube ich. Änlich geht es mir mit Christoph Meckels Kuckuck.

  3. Rosato:

    fabelhaft – gefällt mir so gut wie das Gedicht

  4. Lajla Nizinski:

    Danke für den Hinweis auf ein neues Werk von Christoph Meckel. Ich mag ihn sehr.
    Erschreckend kann ich dieses Gedicht in unseren unfriedlichen Zeiten nicht finden. Trotzdem gefällt es mir, ich bleibe an Worten wie ‚Abdeckerei‘ und ‚Karrengäule‘ hängen.

  5. Martina Weber:

    Solche Gedichte sind, wie alle anderen gelungenen Gedichte auch, Teil des kollektiven Gedächtnisses, genauso wie politische Ereignisse. Aber sie wirken anders. Eher wie ein unterirdischer Fluss.

  6. Martina Weber:

    „Die Sache kommt (…) aus der Existenz des ganzen Menschen.“

    Ein Interview mit Christoph Meckel.
     

    Oder, wer es lieber als kleinen Film mag …


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