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2015 23 Jun

Das verpasste Keith Jarrett-Solokonzert (Reprise)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Tags:  Comments off

Ich fuhr mit einem Studienkumpel nach Hamburg, die Siebziger Jahre zeigten sich von ihrer besten Seite, ECM veröffentlichte reihenweise Meilensteine, und als wir die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein hinter uns hatten, hörte ich das beste Jazzprogramm, das es in der alten Bundesrepublik je gab. Michael Naura hatte Narrenfreiheit, holte alle möglichen Stars zum NDR, der Jazz boomte, ich war verliebt in Katrin E., und hatte vor, ihr Herz und ihren Körper zu erobern. Immerhin hatte ich die Einladung ins elterliche Herrenhaus “An der Glinder Au” in der Tasche.

Ich war noch ein Teenager, und hatte Katrin auf einer Nordseeinsel kennengelernt, wir spielten in den Dünen, verschlangen ganze Backbleche Pflaumenkuchen, ohne ein Pfund anzusetzen, und jeden Tag hörte ich grandiose Jazzmusik im NDR: der junge Jan Garbarek, Art Lande, Chris Hinze, Gary Burton, Bill Connors, Volker Kriegel, Dave Liebman, Chick Corea. Und plötzlich, die Tore Hamburgs waren noch ein Stück entfernt, verkündete Michael Naura im Autoradio, dass der “Meister” just an diesem vorweihnachtlichen Abend im Congresszentrum der Hansestadt auftrete. Solo. Ahh! Als ich dann in 2 Hamburg 74 oder 14 eintraf, der Nachmittagstee aufgetischt wurde, machte ich den Vorschlag, die ganze Bande, Katrin, ihr Bruder, die Clique, solle heute Abend aufbrechen, um den Magier am Klavier zu erleben. Die Reaktion war reserviert. Hanseatisch unterkühlt. Stattdessen nahm das Grauen seinen Lauf.

Ich war damals noch etwas schüchtern, sonst wäre mir das nicht passiert. Mit der angehimmelten Katrin und den anderen trottete ich in eine Old Jazz-Kneipe namens Rempter oder so, wo doofer Stimmungsdixie gespielt wurde, und sich eine biergetränkte Fröhlichkeit breitmachte. Die Nacht durfte ich im Zimmer des Bruders verbringen, der den Aufpasser spielte. Am nächsten Morgen, mit dem Katrin- und Jarrett-Blues in den Knochen, stellte ich mich noch überaus ungeschickt an beim Köpfen des Frühstückseis.

In dieser Story war die Vorfreude alles: wie ich in meiner Studentenbude, Wochen lang, Gato Barbieri hörte, das erste Kapitel seiner grandiosen Latin-Jazz-Platten (auf Impulse), „Fort Yawuh“ vom Keith Jarrett Quartet. Umd seine Solosscheiben, “Facing You”, immer wieder „The Köln Concert“ und „Bremen-Lausanne“. Ich träumte von Katrin, und wie immer, wenn das Verliebtsein sich in mir ausbreitete, fuhr mir wiederholt ein Schmerz in die Fingerknöchel, ein Stechen, ein Ziehen. Ein paar Jahre später war ich nicht mehr schüchtern. Gut so. Und in den Neunziger Jahren arbeitete ich zehn Jahre mit dem grossartigen Jazz-Macho Michael Naura zusammen. Manchmal spielte er in seinem Büro Evergreens auf dem Klavier, und, als er einmal einen Jarrett-Akkord erwischte, fiel mir kurz jener Abend ein, in weihnachtlich geschmückten Einkaufsstrassen – und die unerträglichste Dixieland-Kapelle aller Zeiten! Michael Naura ist heute 80, Keith Jarrett 70.

 

Gut, die Geschichte ist ein alter Hut und wurde hier schon einmal erzählt. Ich habe sie sicher schon sehr oft in Freundeskreisen zum besten gegeben, sowas nennt man „Repertoiregeschichten“, unvergessliche Episoden des eigenen Lebens. In diesem Fall wird die Sparte „verpasste Chancen“ bedient. In der Liebe, in der Musik gibt es diese Stories in Milliarden und Milliarden von Variationen. Man könnte sich meine Verblüffung vorstellen, wenn plötzlich aus den ECM-Archiven „The Hamburg Concert“ als versunkener Schatz gehoben würde, meines Wissen gab es damals keinerlei Senderechte, und ob das Konzert in den Münchener Archiven schlummert, werde ich aus purer Altgier mal erfragen. Es ist ja nun nicht soooo wichtig, dass ich eine grosse Welle drum machen müsste, und diese marginale Episode habe ich natürlich in der Radiostunde, als es mit Keith Jarrett durch die 70er Jahre ging, ausgespart. Ich musste da sowieso ganz viel aussparen, denn unendlich viel hätte auch noch gespielt, berichtet und erzählt werden können. Das „Belonging“-Quartett sah ich einmal beim Jazzfestival in Frankfurt, lang vor der Japanreise, und vor dem Auftritt im Village Vanguard (alles auf Tonträgern dokumentiert). Der Auftritt in Frankfurt war eher von der ruhigen, routinierten Sorte, und rührte mich nicht annähernd so wie die beiden Studioalben und die späteren Live-Platten des „europäischen Quartetts“.

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