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2014 19 Okt

Das heitere Parallellesen von “Bleeding Edge” (3)

von: Manafonistas Filed under: Blog | TB | 4 Comments

 
bleeding edge
 
 
 

Es ist für mich seit meiner ersten Lektüre eines Pynchon-Buches – das war damals der Roman Enden der Parabel – immer wieder verblüffend, wie sauber und gründlich Pynchon recherchiert und mit welch riesigem Kenntnisreichtum dieser Autor seinen Lesern begegnet.

Ich dachte immer, ich würde mich in Wirtschaftsfragen einigermaßen auskennen, Pynchon belehrt mich ein ums andere Mal, dass dem nicht so ist. Was ein Hawala ist? Keine Ahnung. Wikipedia schreibt:

„Das Hawala-Finanzsystem (arabisch ‏حوالة‎, DMG Ḥawāla, von ‏حَوَّلَ‎ / ḥawwala / wechseln, überweisen‘; Hindi: Vertrauen; auch der moderne Begriff Avalkredit bezieht sich darauf) ist ein weltweit funktionierendes informelles Überweisungssystem, das seine Wurzeln in der frühmittelalterlichen Handelsgesellschaft des Vorderen und Mittleren Orients hat. Es ist nicht Teil des seit den 1970er Jahren entwickelten islamischen Bankwesens.“

Reg erklärt es Maxime mit folgenden Worten:

„… es ist eine Methode, Geld um die Welt zu schicken, und zwar ohne SWIFT oder Bankgebühren oder irgendwas von dem Scheiß, mit dem Chase Manhattan und die anderen Banken einem auf die Nerven gehen … Kein Papierkram, keine Bestimmungen, keine Überwachung.“

Mit Hawala kann man also Geld außer Landes schaffen und das in ganz großem Stil. Aha, na gut, wir lernen von Apple & Co, wie man Riesengewinne machen kann und fast keine Steuern zahlt und, wer es noch nicht wusste, bekommt bei Pynchon aufgetischt, wozu die unersättliche Gier fähig ist.

Erstaunlich, wie oft dieses Wort GIER in Bleeding Edge vorkommt – vielleicht eines der zentralen Themen des Buches? An einer Stelle des Romans (S.120) heißt es, dass Maxine beunruhigt sei, wenn sie an das hashslingrz-Projekt denke, “ … angesichts dieser Überschreitung der Grenzen gewöhnlicher Gier, angesichts dieser Maschinen der Nacht und der gewollten Auslöschung, die bereits unterwegs sind und Fahrt aufnehmen …“.

Und jetzt, in diesen Tagen, da wir gemeinsam Bleeding Edge lesen, bekommt ausgerechnet Jaron Lanier den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zwei Zitate nur, aus seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche:

„Ausgerechnet wenn digitale Unternehmen glauben, sie täten das Bestmögliche, optimieren die Welt, stellen sie plötzlich fest, dass sie ein gewaltiges Imperium der Spionage und Verhaltensmanipulation leiten. Man denke an Facebook, das erste öffentliche Unternehmen dieser Art, das von einem einzigen sterblichen Individuum kontrolliert wird. Facebook steuert heute zum großen Teil die Muster sozialer Verbindungen in der ganzen Welt.“

Und:

“ … wir haben unsere Politik zum großen Teil an ferne Konzerne `outgesourct´, womit es oft keinen klaren Kanal zwischen dem Denken und dem Kodieren gibt, also zwischen dem Denken und der gesellschaftlichen Realität. Programmierer haben eine Kultur geschaffen, in der sie den Regulatoren davonlaufen können.“

Ein letzter Blick auf das dieswöchige Lesepaket: Auf diesen Seiten lernen wir auch Horst Loeffler kennen, den Exmann von Maxine, der unangemeldet in das Leben seiner Exfrau tritt, wie es ihm gerade beliebt und mit den Worten „Ihr habt mir gefehlt“ den gefürchteten Exmann-Blues anstimmt.

Gregor M.

 
 
 

 
 
 
Meine Ambivalenz zum Roman bleibt bestehen. Ich bin evtl. der erste Kandidat, der aus dem Lesekreis aussteigen könnte. Das Leben findet bekanntlich nicht im Konjunktiv statt, bei Thomas Pynchon jedoch oft in einem rasenden Parlando, mit einer Schlagzahl von Pointen und Punchlines, die an die Woody-Allen-Filme mit höchster Dialogdichte locker ranreicht. Es gibt postmoderne Opulenzschreiber wie Neal Stephenson, bei denen mir es ähnlich geht.

Ich gehe jetzt mal absichtlich nicht durch die Seiten, um mich an Bonmots und scharfen Dialogen zu erfreuen. Das Thema Paranoia wird eimal sehr gewitzt und interessant aufgetischt, als die McCarthy-Ära Thema wird. Da erinnere ich mich, wie der von mir geschätzte James Garner („Detektiv Rockford“, später auch die „Space Cowboys“) damals meistens in die zweite und dritte Reihe abgedrängt wurde, weil er nicht, wie andere Schauspieler (nehmen wir nur den Helden aus High Noon, „12 Uhr Mittags“), das Spiel der Kommunistenhatz mitmachte.

Ansonsten ist also Maxines Ex zurück, Horst, der, wie manch andere Figuren, einen gewissen Hang zum Überdrehtsein hat. Horst bezieht ein Büro im World Trade Center. Das, und ein paar andere Recherchen von Maxine lassen dunkle Vorahnungen aufkommen: ob der Roman irgendwann selbst düsterer wird, härter – keine Ahnung. Beim Lesen von Romanen ist nämlich das Burleske für mich ein Spannungstöter. Andererseits: das „Blitzlichtgewitter“ dieser virtuosen Prosa hat einen betörenden Charme. Mitunter fliege ich durch die Seiten. Aber ob es nachwirkt? Ob es unter die Haut geht?

Also, da fällt mir (Abschweifung!) die hierzulande wenig bekannte Serie „Longmire“ an. Der Protagonist ist Detektiv, seine Arbeit im Niemandsland der USA führt immer wieder in indianische Mythen hinein, die Handlungsstränge bleiben aber trotz einiger mystery-Elemente durchaus konventionell angelegt. Kollisionen mit den Interessen eines Indianerreservats, Aufklärung von Mordfällen etc. …

Dennoch haben die Hauptfiguren eine beträchtliche Tiefe (und Fallhöhe). Der Detektiv erinnert mich an James Garner, die drei Staffeln sind aber, basierend auf Romanen und Ideen von Craig Johnstons „Longmire Mysteries“, wesentlich dunklerer Stoff als die Rockford-Stories alter Zeiten: schönes langsames Erzähltempo in weiten Prairielandschaften. Ein wohltuender Kontrast (auf meinem IPad) zu Pynchons Staccato. Und „Homeland 4“ gibt es jetzt, Woche für Woche, mit Untertiteln. Amerika 2014. Hart, verstörend, anti-burlesk. Viel Konkurrenz für „Bleeding Edge“ :)

Michael E.

 
 

Da Thomas Pynchon es auch gerne tut, erlaube ich mir heute, in Nebensächlichkeiten abzuschweifen. In Stuttgart gab es neulich zur Zeit des Volksfestes einen mittelgroßen Skandal um die Anzeigetafeln im Hauptbahnhof, auf denen für eine Dreiviertelstunde zu lesen stand: „Es ist mit Verspätungen, überfüllten Zügen und verhaltensgestörten Personen zu rechnen.“ Niemand, der jemals in eine S-Bahn voller Volksfestbesucher geraten ist, zweifelt am Wahrheitsgehalt dieses Satzes; die Bahn jedoch drohte dem textenden Mitarbeiter mit Kündigung und kriegte sich garnicht mehr ein vor lauter Entschuldigungen bei ihren Kunden. Dabei ist „verhaltensgestört“ (heute sagt man gern „verhaltensoriginell“) ein Etikett, das jedes auch nur halbwegs lebendige Schulkind ständig aufgeklebt bekommt. Man erinnere sich, kurz zum Roman zurückgeschweift, an die Kugelblitz-Schule, die Maxines Kinder besuchen – dort steht jahrgangsweise jeweils eine bestimmte Psychopathologie im Mittelpunkt. Ob da auch Kaufsucht dabei ist? 130.000 kamen am Eröffnungstag in den Stuttgarter Konsumbunker „Milaneo“, obwohl bereits zwei Wochen vorher ein ähnlich großes Event stattfand. In den USA sind die großen Malls inzwischen out; 2002 spielt Maxines Sohn Otis mit seiner Freundin Fiona „Melanie Mall“: das ist eine Glitzerwelt aus Plastik mit Geldautomat und Rolltreppe. Sie spielen jedoch nicht klassisch „Kaufladen“, sondern ballern mit Action-Figuren, bis die Mall zerstört ist. „Inmitten von heftig imaginierten Trümmern und Rauchschwaden, umgeben von hingestreckten und zerstückelten Plastikkörpern, klatschen Otis und Fiona sich am Ende einer jeden Episode ab“. Das klingt vernünftig. In Stuttgart dagegen ist die nächste Neueröffnung für den kommenden Sommer geplant.

Wolfram G.

 
 
 

 
 
 
Gehackte Furbies? Zwölfjährige Hackerinnen? Und warum geht das Geld in den nahen Osten? Mein Leseverhalten ist jedenfalls seit Seite 107 folgendes: es wird nicht zu viel herumgerätselt und versucht zu dekodieren, ich lese jetzt großzügig über dieses und jenes hinweg.

Die Zusammenhänge werden – nicht nur deswegen – unschärfer, das Lesevergnügen steigt. Der Schwindel bleibt; momentan fühlt sich das ganze an, als wenn ich zwischen verschiedenen Sendern beständig hin- und herschalte und so viele Momente aufschnappe, aber kaum einen Zusammenhang ausmachen kann. Doch wahrscheinlich ist dieser Effekt beabsichtigt. Dafür gewinne ich eine stärkere Beziehung zu Maxine und den anderen Charakteren.

Erstmals taucht „der auf Ben & Jerry´s spezialisierte Wünschelrutengänger“, „irgendwie Ex“ Horst richtig auf – anrührend, wie die beiden Söhne und ihr Vater beim Fernsehen einschlafen, gespenstisch, dass Horst ausgerechnet im World Trade Center ein Büro mietet. Unheimliche Araber treten auch auf … „das Ganze beginnt sich in einen Wüstenfilm zu verwandeln“, mal sehen ob/wie Pynchon hier die Zusammenhänge herstellt.

Wer oder was will eigentlich der FBI/Fango Typ Windust? Was wird mit Maxis Schwester und ihrem Mann Avi passieren? Wer schickt den lustigen Fahrradkurier zu Maxine? Wie soll ich mir die ganzen Namen merken? Ich glaub´ ich benutze doch schneller als mir lieb ist wieder den Computer und das Pynchon Wiki …

Ein Seitenthema – Gregor hat letzte Woche drauf hingewiesen – ist die Vereinheitlichung New Yorks. Bei Frühstück mit Maxine sagt March: „In dieser Stadt bleibt nichts auch nur für fünf Jahre an derselben Adresse, dafür sorgen schon diese Schleimbeutel von Vermietern und Stadtentwicklern. Nenn mir ein Gebäude, dass dir am Herzen liegt, und eines nicht allzu fernen Tages ist da entweder ein Stapel schicker Geschäfte oder ein Haufen schicker Wohnungen für Yups mit mehr Geld als Hirn.“

Olaf W.
 
 

Bleeding Edge ist in ruhigeren Fahrwassern. Pynchon drosselt das Tempo und nimmt sich (endlich?) etwas mehr Zeit, einige Hauptcharaktere zu beschreiben und zu entwickeln. March Keleher, die schrullig-schräge Schwiegermutter von Gabriel Ice, dem potenziellen Oberbösewicht, trägt ihr Herz auf der Zunge: “ … some faceless yuppie shoved past March saying „Excuse me“, which in New York translates to „Get the fuck outta my way“, and which turned out finally to be once too often. March dropped the bags she was carrying in the filthy slush of the street, gave them a good kick, and screamed as loud as she could, „I hate this miserable shithole of a city!“. Das große Nebenthema New York scheint immer wieder unter der Haupthandlung hervor und Pynchon konfrontiert uns und seine Heldin Maxine mit Verschwörungstheorien und den Machenschaften der amerikanischen Geheimdienste in Süd- und Mittelamerika. Natürlich ruft Pynchon auch in diesen Kapiteln Klassiker wie Psycho oder Strangers in the Night ab, um seine Protagonisten in Szene zu setzen, und arbeitet mit Anspielungen aller Art. Das ist jedoch nicht nervtötend, sondern höchst vergnüglich, weil es nicht im „Seht-her-ich-weiß-was“-Stil daherkommt und zu Entdeckungen anregt. Meine größte Entdeckung dieser Kapitel ist „Nessun Dorma“ gesungen von Aretha Franklin, die 1998 bei der Grammy-Verleihung für Luciano Pavarotti eingesprungen ist, was man sich natürlich bei YouTube anschauen kann.

Thomas S.
 

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4 Comments

  1. Gregor:

    Ich fass´ es ja nicht, Wolfram, was du da über Stuttgart schreibst, das kommt davon, wenn man nur die SZ liest, dann weiß man nicht, was 15km entfernt in der Stadt los ist.

    Und du, Michael, schreibst: „Ich bin evtl. der erste Kandidat, der aus dem Lesekreis aussteigen könnte.“ – Also das geht ja gar nicht. NO GO! Du hattest die Idee und also … ne … so geht’s ja nicht!

  2. Anonymous:

    Ich kann Michael verstehen. Im Moment hält mich das sprachliche Feuerwerk davon ab, das Buch zur Seite zu legen. Die „Handlung“ hingegen kann ich kaum wiedergegeben, da wate ich durch Treibsand – das stört mich schon ein wenig.

  3. Olaf / Anonymous:

    …hatte vergessen meinen Namen anzugeben…

  4. Michael Engelbrecht:

    Das ist ja das Schöne am entspannten Regelwerk, dass der Ausstieg eine Option ist. Ich gestalte gerade mein ganz privates Parallellesen, denn neben Herrn Pynchon lese ich Herrn Ertener.


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