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on life, music etc beyond mainstream

2014 11 Apr

Es war Neuland

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags:  3 Comments

Vor ein paar Jahren begrüßte man das Internet, diese schöne neue Wohltat, als eine ungekannte Form der geistigen und imaginären Ausweitung, begeistert von der Möglichkeit, nun von seiner Wohnung, seinem Zimmer aus, vom Schreibtisch her, mit und in einer Sphäre zu kommunizieren und sich spielend leicht Informationen heranzuholen. Es war Neuland. Man genoss den wilden Wechsel zwischen Realwelt und virtual reality und wenn man kurz mal zum Einkaufen über die Strasse ging – wofür kaum Zeit blieb – dann war man in Gedanken noch auf seinem Desktop. Welt am Draht. In einer digitalen Wolke schwebend, fühlte man sich jung, geadelt, zugehörig. Wunderbare Metamorphose, aus Looser wurde User. Und wenn einem dabei, wie von einem Auto angefahren, im Tagtraum eine zahnlose Alte rücklings hinterherrief: „Das Internet wird euch noch alle ins Verderben bringen!“ – entgegnete man etwas angefasst: „Ja red´ du nur!“ Auch die ehrwürdige Grossmutter verweigerte schliesslich noch zeitlebens jegliches Telefonat – und die ersten Eisenbahnen galten als viel zu schnelles Teufelszeug … Aber die Zeiten ändern sich. Man kehrt heut gerne tendenziell zurück: zu den habhaften und handlichen Dingen, zu den Menschen, zur konkreten Welt. „Das einfache Leben!“ forderte Susanne und Jan bejahte das. Seine Haut retten und sein Hirn – vor diesem nimmermüden Flackern der Bilder: Bitte Augen schließen, bitte zum Abschluss kommen, bitte sterblich werden.

 
 
 

 
 
 
Byung-Chul Han: Bitte Augen Schliessen.
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3 Comments

  1. Martina:

    Paul Virilio formulierte vor ungefähr 30 Jahren die These, jede Technik brächte die ihr entsprechenden Gefahren hervor. Er schlug vor, die entsprechenden Nachteile bestimmter Techniken in Museen zusammenzutragen. Also ein Museum für die Nachteile der Eisenbahnen, eins für die Nachteile des Telefonierens, der Autos etc. Vielleicht wird es irgendwann tatsächlich ein Museum geben, in dem alle Nachteile des Internets zu finden sind. In 100 Jahren? In 50? In zehn?

  2. Uwe Meilchen:

    Und nicht zu vergessen die modernen Speichermedien wie Festplatten, Sticks et cetera: wieviele dieser Speichermedien werden denn auf laengere Sicht denn das Gespeicherte noch wiedergeben ? Klar, klein und kompakt…, aber bei den althergebrachten Speichermedien wie z.B. Papier und Negativen von Photos sehe ich doch eine weitaus groessere „Ueberlebensdauer“

  3. Martina:

    Das führt mich zu einem meiner Lieblingsthemen: der immer wieder gern belächelten Audiocassette. Wer jemals das Glück hatte, einen Blick auf meine Sammlung zu werfen, ist in Begeisterung erstarrt. Es geht hier nicht nur um die unbestreitbare Schönheit dieses Gegenstandes (vergleicht man ihn mit der kalten Ausstrahlung einer CD, eines Mediums, das sich, wie jeder weiß, noch nicht einmal im Neuzustand von jedem CD-Spieler abspielen lässt). Es geht hier um eine Lebenseinstellung, und also um ein Lebens- und Zeitgefühl, analog versus digital. Die Fähigkeit, Erinnerungen zu schaffen. Ich saß mit A. in diesem abgelegenen Haus mitten in der hügeligen Landschaft Mallorcas. Einst hatte hier eine Art Hippiekommune gelebt. Sie hatten die Fotoalben in den Regalen stehen gelassen. Aufbruchsstimmung, begeisterte Gesichter, ein paar skurrile Drogen sicherlich auch. Abends war es so kalt, dass wir Feuer im Kamin machten. Immer wieder der Schrei eines Schafes von der anderen Seite des Tals. Und ich holte den mitgebrachten Kassettenrecorder raus und wir hörten an zwei Abenden Hörspiele und diskutierten darüber. „Die Brandung von Hossegor“ von Alfred Andersch war eines davon. Eine Aufnahme des WDR aus dem Jahr 1976. Bitte Augen schließen.


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