Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2012 25 Jul

Neues Gitarrenspiel

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Comments off

 

Die dem Menschen zuträglichste Weltanschauung ist die Idee des „Übens“ – das etwas abgeschmackte „lebenslange Lernen“ lassen wir getrost beiseite, denn vor Zwang & Pflicht kommen im besten Fall stets Lust & Spiel.

So kommt es, wenn man infolge eines Unfalls eine irreparable Handverletzung erlitten hat, zu einem Krankheitsgewinn der besonderen Art: das Gitarrespielen ist plötzlich auch therapeutisch legitimiert. Es wäre zwar operabel, meint der Chirurg – sei jedoch riskant.

Man versucht sich anders zu helfen, nimmt die Gitarre, die man vor Jahren schon an den Nagel hängte, wieder zur Hand, macht Übungen zur Kräftigung der Finger, der Hand und des Handgelenks. Denn auch hier: was rastet, rostet. Man entdeckt einen Effekt, der die Situation verbessert, den Schmerz lindert, die Beweglichkeit erweitert.

Die Finger liegen auf dem Griffbrett, die Hand und der Unterarm hängen locker herunter. Dann spielt man simpel Melodien oder Läufe. Abgesehen vom kinetischen Moment – nämlich Kraft in jeden einzelnen Ton zu legen – werden Interesse und Schwerpunkt vorrangig aufs Melodiespiel verlegt, Akkorde werden zunächst vernachlässigt oder vereinfacht.

Man gewinnt einen neuen, zwangloseren Zugang zum Instrument und zur Musik, fernab jedes „Zeigenwollens“, und man fragt sich: „Warum erst jetzt?“ Wenn also die Chirurgen sagen, man solle täglich Fahrrad fahren, um die Kniegelenke fit zu halten und Gitarre spielen, um das Handgelenk zu stützen, ist man wohl ein glücklicher Mensch: denn was man sowieso gern tut, tut man jetzt auch „der Gesundheit wegen.“

Dem Pionier der Freien Improvisation und Philosophen des Gitarrenspiels, Derek Bailey, scheint Ähnliches widerfahren zu sein. Aufgrund eines Karpaltunnel-Syndroms der rechten Hand konnte er das Plektrum nicht mehr halten und entwickelte eine neue Spielweise, aus der ein Album entstand. Miles Davis hat den Jazz von der Athletik des Bebop befreit. Derek and me – wir aber führen ihn sanft und entschlossen ins Feld der Therapie.

 

Derek Bailey – „Carpal Tunnel“ (Review Pitchfork)

 

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