Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: April 2011

2011 30 Apr

Nine Horses: Snow Borne Sorrow

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David Sylvian hat genau zwei perfekte Platten in seiner Post-Japan-Ära gemacht: Brilliant Trees und Secrets of the Beehive, beide bedeutend (seit „blemish“ sind die würfel neu gefallen). Ausgerechnet mit Snow Borne Sorrow nun tat ich mich Anfangs schwer. Es erschien mir zu perfekt und zu kalt abgemischt. Ich ließ es ganze vier Jahre lang links liegen, ohne es mir überhaupt richtig anzuhören. Dann aber stellte sich heraus, dass weder von Anderen noch von ihm selbst Adäquates nachkam und so widmete ich mich spät dann doch noch diesem Werk. Es kam, wie´s kommen musste: ich fand es plötzlich gut! Der Song „A History Of Holes“ bietet eine abgeklärte, aufgeräumte Rückschau auf ein bislang gelebtes Leben. „Atom And Cell“ führt mit seinem notorischen, minimalistischen Dreivierteltakt mitten hinein in die Materie. „Darkest Birds“ kann als Hommage gelten an alle Kreaturen, die sich in semi-depressiven Schattenregionen einrichten (müssen). Ihnen wäre mehr „Serotonin“ zu wünschen. Das Titelstück „Snow Borne Sorrow“ bietet diese experimentelle Vertracktheit, die Sylvians Kompositions- und Arrangierkunst deutlich von Seinesgleichen unterscheidet. Und zu guter letzt „The Day The Earth Stole Heaven“,  einer meiner  Favorite-Sylvian-Popsongs, nahezu pefekt (just a little sagging at „if you look at her sideways“). Die Riege der Musiker, die dem Meister des sophisticated-upperclass-songwriting hier zur Seite stehen, darf keinesfalls verschwiegen werden: allen voran Bruder Steve Jansen, dessen Drum-Kunst und Einfluß auf das sylvianische Gesamtkunstwerk nicht genug herausgehoben werden kann; Burnt Friedman; Keith Lowe, dessen satter Kontrabass an Danny Thompson erinnert; Stina Nordenstam; Ryuichi Sakamoto und Arve Hendriksen, um die wohl Wichtigsten zu nennen. Ja, dieses Album lässt sich heutzutage immer noch gut anhören und man kann nur hoffen, dass die neun Pferde erneut von der Koppel gelassen werden – someday, somehow.  

Wisst Ihr, warum mir das Lied so gut gefiel? Weil es Grönemeyer nur gesungen
hatte, nicht aber geschrieben.

Im ersten Moment dachte ich ja, es handele sich um die Abschiedsrede
von Guido Westerwelle für den Bundesparteitag der Liberalen im Mai in Rostock.

„Die Dämonen sind versenkt!“ „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, ist einer,
der den Herbert v…“, möchte man im Anflug einer steifen Brise am Warnemünder Strand ausrufen, bevor man erschöpft in den Wagnerischen Schlick zurücksinkt. Setze die Segel, Du stolzer Krieger, Richard Grönemeyer, besteig den Ruhrpott und brich auf in das Land nach dem Alkohol – „Amerika“.

In diesem Sinne…

2011 27 Apr

Arte: Bad Boy Kummer

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Bad Boy Kummer – Dokumentarfilm, CH 2010, Regie: Miklós Gimes

Er war Tennisprofi, Punk und Hollywoodreporter. Seine Interviews mit Pamela Anderson, Mike Tyson, Sharon Stone und Courtney Love sind legendär. Doch sie waren allesamt gefälscht. Unter dem Schlagwort „Borderline-Journalismus“ wurde der Fall des einstigen Starjournalisten Tom Kummer zu einem der größten Medienskandale der letzten Jahre, in dessen Folge die beiden Chefredakteure des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“, Ulf Poschardt und Christian Kämmerling, ihre Stühle räumen mussten, weil sie gefälschte Interviews von Tom Kummer veröffentlicht hatten.

Und noch heute polarisiert Tom Kummer. Für die einen ist er ein genialer Hochstapler, der sein Talent verschwendet hat, für die anderen ist er ein dreister Betrüger, der die Karrieren von Kollegen zerstört hat. Heute arbeitet Tom Kummer als Paddle-Tennis-Lehrer im exklusiven Jonathan Club in Los Angeles.

Filmemacher Miklos Gimes hat als Redakteur beim „Schweizer Tagesanzeiger“ seinerzeit selbst Kummers gefälschte Interviews redigiert, ohne die Konsequenzen, die seine Kollegen vom „Süddeutsche Zeitung Magazin“ erleben mussten. In seinem Porträt versucht Miklós Gimes nun herauszufinden, was Tom Kummer dazu trieb, so dreist zu lügen. Es gelang ihm, einen spannenden und schillernden Dokumentarfilm zu drehen, ein Stück Popkultur, in dem Wirklichkeit und Unwirklichkeit miteinander verschmelzen. (Quelle: Arte)

2011 27 Apr

reality crashed my brain

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Twin Peaks fiel gestern aus und selbst Manuel Neuer mußte seine One-Man-Show ohne mich starten. Es gab nämlich Dokus über das Reaktorunglück von Tschernobyl. Und jetzt wird´s mal kurz ernst: ich war erschüttert und betroffen, kannte nicht die Dimension dieser fortwährenden Katastrophe. Das war keine Sau, die durch das mediale Dorf von Hysteristan (Thea Dorn) getrieben wurde und wird, sondern eine tiefernste und todtraurige Sache, von Skandalen und menschlichen Tragödien umwittert. Gorbatschow kam auch zu Wort: wir wären haarscharf vorbeigeschlittert an der richtig großen Katastrophe damals. Europa wäre dann für lange Zeit unbewohnbar gewesen. Dieses ließ sich aber abwenden – auf Kosten tausender von Menschen, die im Arbeitseinsatz ihr Leben opferten, um den Schaden einzudämmen. Jungen Männern, die bei diesem Zwangsarbeitseinsatz verstrahlt wurden und die hernach ein immermüdes Frührentnerdasein, genannt Siechtum, führten, unterstellte der russische Staat, sie würden simulieren – und man kürzte ihnen die Sozialhilfe. Dies ist nur eine der unzähligen Horror-Geschichten. Nietzsche sagte, Gott sei tot. Osho meinte, das Wort „F.U.C.K.“ sei sein würdiger Vertreter. Das meine ich auch. „Und siehe da, die Schöpfung war nicht gut …“ – sagt meine Wut.

2011 25 Apr

John Martyn: London Conversation

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Wenn diese Rezension einem Genius huldigt, dann völlig zu Recht: John Martyn,
leider unlängst im Alter von 60 Jahren verstorben, hat zeit seines Lebens (fast) nur
die Wertschätzung seiner Musikerkollegen und einer treu eingeschworenen Fangemeinde erfahren dürfen.

Während seine Karriere am Boden kleben blieb, schwang er sich zu Songperlen und Hymnen der angelsächsischen Popkultur empor. Im musikalischen Flug und Aderlaß der Emotionen mochte er exaltierter sein als seine Seelenverwandten der englischen Folk-Gilde, aber er manövrierte sich damit vielleicht zu sehr in die Position des Eigenbrötlers und Außenseiters.

Hier nun haben wir das Debüt von 1967 vor uns und es ist in seiner grün- schnäbeligen Abgeklärtheit nur mit dem jungen Bob Dylan zu vergleichen. Dessen „Don’t think twice…“ wird dann auch hier auf sehr berührende Weise vorgetragen. Zwei Traditionals werden noch intoniert, und schließlich überzeugen natürlich die wunderschönen, noch etwas verhalten dargebotenen Eigenkompositionen.

Fazit: Hier ist ein ganz Großer noch „klein“. Und wir ahnen bereits, daß unser Glück
noch 40 Jahre währen wird. Rest in Peace, John!

Schiffsverkehr

Entfalte Meine Hand
Die Anker Los
Denn Auch Jedes Tief Dreht Sich Ins Hoch
Fall Auf Meinen Fuß
Die Feuer Sind Gesetzt
Und Die Nebel Leuchten

Deutung: Das lyrische Ich macht sich auf den Weg auf die hohe See.
Es ist sicher, dass nach schlechter Zeit auch mal wieder eine gute Zeit kommt.
Herzlichen Glückwunsch, schon mal vorab, zu dieser Erkenntnis!

Weg Mit Dem Fixen Problem
Ich Will Mehr
Schiffsverkehr
Endlich Auf Hohe See
Endlich Auf Hohe See

Deutung: Ein fixes Problem will das lyrische ich loswerden; es soll nicht starr sein,
sondern in Bewegung geraten. Schau, schau: „Wenn man sich bewegt, bewegt sich was“.
Hey, diese Textzeile hätte auch noch gut gepasst. Das ist nicht Küchenpsychologie,
das ist Besenkammerpsychologie.
 

Werde, Wer Ich Bin
Gute Fahrt
Die Dämonen Sind Versenkt
Aufgeklart
Es Gibt Kein Damals Mehr
Es Gibt Nur Ein Jetzt, Ein Nach Vorher

Deutung: das lyrische Ich will in der Gegenwart leben. Es hat die Dämonen versenkt. Hoffe, die waren schon tot, als er sie versenkt hat. Die Vergangenheit gibt es nicht mehr. Das ist natürlich Blödsinn, Herr Grönemeier. Und für das Jetzt erfinden Sie einen neuen Ausdruck, das „Nach Vorher“. Entschuldigung, aber dieser Ausdruck hat keinerlei
sinnliche Präsenz und wirkt ein bisschen lächerlich.
  

Stell Mich Vor
Das Leere Tor
Ich Schlag Mich Fein
In Seide Ein
Geb Mir Ewigen Schnee
Pures Gold, Wohin Ich Seh
Und Leb Mich Voran
Und Leb Mich Voran
Und Ich Verliere Mich In Mir

Deutung: ich fürchte, hier brennen dem Dichter die Sicherungen durch.
Vor einem leeren Tor trägt er Seide und wünscht sich ewigen Schnee.
Befindet er sich
in Todesnähe? An einer Schwelle? Oder meint er Koks? Oder ein El Dorado im ewigen Eis? Wird er hier gar vieldeutig? Er sieht überall pures Gold. Welche Drogen sind im Spiel?
Ein bisschen holzschnittartig ist das für so viel Psychedelik. Dann wird’s ganz hart:
das lyrische Ich lebt sich voran und verliert sich in sich; das ist nicht mehr Besenkammerpsychologie, das ist trivialer Totalblödsinn!  Er spielt wieder
mit Pseudotiefe und kalauert dabei vollkommen unfreiwillig.

Brauch Meinen Tag
Kein Schicksalsschlag
Das Salz In Mir
Die Vorfahrt
Radikalkur
Klare Natur
überholspur
Kein Radar
Den Abendstern

Deutung: Na, klar, jetzt zieht es unsern Freund zum Abendstern, natürlich auf der Überholspur. Schliesslich will er keine Zeit verlieren. Er reimt im Staccato, will sagen:
auf Teufel komm raus, Radikalkur auf klare Natur. Da steckt natürlich Potential drin,
wenn eine Brauerei mal wieder einen Song für einen Werbespot sucht. Da passen auch
Form und Inhalt, denn wenn man Lyrik auf einen Promillegehalt untersuchen könnte,
wäre das hier schon was für eine Zwangausnüchterung.
 

Endlich Freie Sicht
Die Segel Sind Gefüllt
Und Keine Liebe Bricht Mich

Deutung: das lyrische Ich hat freie Sicht. Prima. Die Segel sind gefüllt: ich ahne,
es weht eine steife Brise (da fällt mir ein Bierwerbespot mit Joe Cocker-Musik ein).
Und er ist frei von allem Liebeskummer. Das überrascht nicht: denn die Vergangenheit
hat er ja abgeschafft (s.o.), und eine Braut ist bei dem Verrückten glücklicherweise  
nicht mit an Bord.

Sie ist jung, schreibt Romane, Short Stories, und singt. Manchmal denkt man,
ihre Stimme sei elektronisch bearbeitet, aber da zapft sie nur uralte Gesangstechniken diverser Ethnien an. Ihr Album VISCERA wurde gerade bei Rune Grammofon veröffentlicht. Sie ist eine Bewunderin der neuen, kühnen Alben von David Sylvian und freut sich,
ihn beim diesjährigen Punktfestival in Kristiansand (1.9.bis 4.9.) persönlich zu erleben.
Mir erzählte sie zu einem der Songs ihres Albums Folgendes:  

“This is a thirst” ist wahrscheinlich der am stärksten improvisierte Song auf meinem neuen Album VISCERA. Es begann als spoken word-Stück. Ich sprach und summte vor mich hin, während ich andere Musik hörte. Und dann begann ich diese Session, bei der ich nur meinen Part aufnahm, diese gesprochenen Sätze und Bilder, und ich sang zu einem tiefen und langsamen Puls. Und von da an entwickelten wir das Stück. Es ist mehr Improvisationsmusik als ein Song, und wenn wir es live spielen, stellen wir uns vor, es gehe um das Bewahren eines inneren Zustandes, im Gegensatz zu einer voranschreitenden Form. So entsteht ein Raum beim Hören, vielleicht ein Zustand, bei dem man Minuten lang verweilt – es ist anders als bei einem Song, der dich anhand seiner Story  mitnimmt…spielen wir das Stück live,  ist es manchmal kurz, manchmal lang… manche Leute halten THIS IS A THIRST für einen toten Song , und andere, die es berührt, geniessen diese Stille. Ich halte es für wichtig, die stillen Momente frei  improvisierter Musik in den Rahmen von Popmusik transportieren zu können. Der Platz, den ich bei diesem Song kreieren möchte, ist ein dunkler,  aber auch ein positiver Ort – so als wärst du in einer dunklen Höhle, innerhalb  eines Körpers. Durch das Sprechen und das Wiederholen einzelner Wörter, die sich auf das Fühlen und Empfinden von Welt beziehen,  habe ich versucht, diesen dunklen Raum in einer Weise zu erfahren, die ich vorher noch nicht kannte. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang, wie ich einmal einen Song aus David Sylvians Album Blemish hörte, im Radio, das war 2003, damals lebte ich noch  in Melbourne, und das war so eine verblüffende Radioerfahrung. ich vergass alles, Zeit und Raum, und war auf einmal innerhalb einer Musik, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Ich denke David Sylvians „Blemish“ war eine große Inspiration für  “Viscera.“

Wie würde Genazino schreiben, wenn er in den Ozarks groß geworden wäre? Sicher bar aller Ironie, Josie! Vielleicht wie Daniel Woodrell, der sich auf seinem kleinen meisterhaften Thriller „Winters Knochen“ ins niemandlandige Amerika begibt, wo sich viele Kleinkriminelle und manche Mörder mit dem Kochen von Crystal Meth über Wasser halten. Der Film Winter´s Bones läuft gerade in unseren Kinos und wird von der Presse zurecht gerühmt.

Im Film waltet ein kalter sozialer Realismus, der es äußerst lohnend macht, die literarische Vorlage zu lesen, die gerade im feinen, kleinen Verlag „Liebeskind“ erschienen ist. Man hat das Gefühl, dieselbe Story ganz anders zu erfahren, denn der Film blendet den magischen Realismus des Schriftstellers komplett aus. Die Sprache ist sinnlich, vibriert, macht atemlos: in der Schilderung der Nachtseite der Dinge ist sie einem Cormac McCarthy ebenbürtig. Der Regisseur hätte ja auch mit der „subjektiven Kamera“ arbeiten müssen, um z.B. darzustellen, wie die junge Anti-Heldin sich gelegentlich in andere Wirklichkeiten versenkt, in dem sie das trostlose Immergrau des Winters mit Hörkassetten vertreibt, auf denen ihr tropische Landschaften, warme Brisen und blaues Meer vorgegaukelt werden.

Als ich den Namen des Autors zum ersten Mal las, dachte ich, es handele sich um Cornell Woodrich –  so nah liegen die Namen beieinander. Der ist schon lange tot, seine Leben war eine einzige Tragödie, und er hat, glaube ich, zur Zeit von Hammett und Chandler, seine exzellenten schwarzen Thriller geschrieben. Etwa „Die wilde Braut“, ein lang vergriffenes Diogenes Taschenbuch. Woodrell und Woodrich – zwei Meister ihres Fachs. Aber, naja, bei den Manafonistas bin ich der Thriller-Experte, und ich bin gespannt, wann sich einer der Mitstreiter mal daran macht, meine unerbittlichen Lesebefehle in die Tat umzusetzen. Aber die Jungs sitzen wohl jetzt in Outdoor-Cafes in Thüringen und Niedersachen, lesen wahrscheinlich Italo Svevo und fragen sich, warum sie einen Regenschirm für diesen Tag mitgenommen haben.

2011 22 Apr

„Achtung Baustelle“ …

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… ist der Titel eines Buches von Wilhelm Genazino – und freundlicher Hinweis für den geschätzten Leser unseres frisch entstandenen Blogs: auch hier läuft noch nicht Alles
rund. WordPress, that means „Work in Progress“. Wir hoffen aber inständig, dass
sich Volkshochschulkurse zu diesem Thema für alle Beteiligten vermeiden lassen. ;)

Das genannte und empfohlene Buch gliedert sich in 3 Teile. Im Ersten pflückt Genazino
mit der humorvollen Feinsinnigkeit, die unsereins seit „Ein Regenschirm für diesen Tag“
zu schätzen lernte, Zitate aus der Literatur auseinander. Der Zweite beinhaltet Essays
zu Joyce, Proust und Svevo; und der Dritte öffentliche Äußerungen des Autors.

Von Walter Benjamin heißt es zum Beispiel: „Ich lese auf meinem Zimmer Proust,
fresse dazu Marzipan.“ Genazino lotet im Folgenden die Tiefe solcher Sätze aus:
„Wer Proust liest, das hören wir immer wieder, gilt als besonderer Mensch.
Wir stellen uns diskrete Individuen vor, die unauffällig, fast versteckt leben …“ –

Spüren Sie diese rehscheuen Wesen auf und lesen Sie Genazino.
Sie werden es nicht bereuen. Proust Mahlzeit!

1 – Werke von Steve Tibbetts erscheinen in gehörigen Abständen; der Mann hat es nicht eilig. NATURAL CAUSES heisst der jüngste Streich, und in seiner In-Sich-Gekehrtheit erinnert er von ferne (zumindest im meditativen Gestus) an NORTHERN SONG, sein Debut auf dem Label ECM. Was Marc Anderson (Perkussion, Steel Drum, Gongs) und Steve Tibbetts (Gitarren, Piano, Kalmba, Bouzouki)zu Wege bringen, entstand damals ohne Overdubs in einem norwegischen Tonstudio an zweieinhalb Tagen – jetzt haben sie die vertraute Studiotechnologie in St. Paul benutzt, um in feinen Schichtungen musikalische Essenzen zu destillieren. Immer wieder schimmert da ein fernes Asien durch, selbst, wenn die Klänge einer Bouzouki, Kalimba und Steel Drum eher mit anderen Erdregionen assoziiert werden. Tibbetts hat lange Erfahrungen gesammelt, vor Ort.

2 – Rückblende: man nenne dies nicht Fusion Music und auch nicht Crossover. Die Musik des 1954 in Madison, Wisconsin, geborenen Steve Tibbetts erzählt vom Reisen. Mit sechs Jahren hatte Steve begonnen, die Ukulele zu erforschen, und griff zur akustischen Gitarre, sobald seine Hände sie fassen konnten. Später spielte er in Rockbands und richtete sich im Laufe der Zeit in St. Paul, Minnesota, ein eigenes Studio ein, das bald zum zweiten Instrument wurde – Klangmanipulationen gehörten zum Handwerk eines Musikers, der in seiner Jugend mal über Wochen Tomorrow Never Knows von den Beatles und Ege Bamyasi von Can hörte.

Der Globetrotter aus Passion hielt Abstand zu jedem drohenden Mainstream, vermied die mechanische Griffbrettartistik mancher Kollegen und kämpfte gegen den üblichen Etikettenschwindel: „Folkmusik vom Mars“ nannte ein Journalist sein Klanggebräu. Seine erste große Reise führte nur nach Oslo: Unter der Klangregie Manfred Eichers entstand die karge, leicht pulsierende Gelassenheitskunst von Northern Song. Seitdem mischte der Gitarrist die Höhen- und Breitengrade seiner Musik nach den Gesetzen des freien Falls von Mikadostäbchen und produzierte brillante Werke, mit Titeln wie Safe Journey (1984), Big Map Idea (1990) oder The Fall Of Us All (1994) – eine konstante Verletzung des Orientierungssinnes. Manchmal sind da Geräuschspuren der Fernstraßen um Minneapolis zu hören, der Rocky Mountains oder eines Mönchschors aus Tibet.

Fetzen eines fremden Alltags fanden sich Anfang der Nuller Jahre auch auf seiner CD A Man About A Horse, wenn beim Sampeln Natur- und Tierlaute zusammen mit den bronzenen Sounds von Gongs gespeichert werden (ECM 1814). Fasziniert ist Tibbetts von der Kebyar-Schule der Gamelan-Musik, ihren explosiven Attacken, kühnen Synkopen und verwickelten Läufen aus Blockakkorden. Bali, Indonesien und Nepal wurden bald zum ständigen Reiseziel. Er hört zu, wenn ein Einheimischer von den Geistern der Bäume spricht, und lässt sich vom endlosen Klingklang indonesischer Puppenspiele in den Schlaf wiegen. Kehrt Steve Tibbetts von seinen Reisen zurück, arbeitet er mit frei schwebenden Erinnerungen, nicht mit akustischen Abziehbildern. Asien wird hier zu einer Welt, von der ein später Jimi Hendrix geträumt haben könnte. Komplexe Texturen, die, allem Gitarrenfeuer, aller Perkussionsdichte und Basswucht zum Trotz, eine seltsam beglückende Klarheit verströmen – als könnte man der Musik beim Luftholen zuhören!

3 – Zurück zu NATURAL CAUSES. Hier klingt kaum etwas nach der tantrischen Ekstase von THE FALL OF US ALL oder A MAN ABOUT A HORSE. Hier bricht sich eine (so seltsam das klingen mag) vibrierende, durchdringende Ruhe Bahn, in vornehmlich akustischen Texturen. Lebendige Pulsschläge einer Musik, die eine fantastische Balance findet zwischen Stille und Klang und Rhythmus (abseits der Klischees, die hier immer gleich etwas Heiliges und Spirituelles ins Feld führen!). Was inspirierte Steve Tibbetts diesmal? Nun, es war (u.a.) das an die menschliche Stimme erinnernde Sarangi-Spiel eines virtuosen indischen Musikers. Tibbetts weiß, wie wenig Sinn es macht, solche asiatischen Klänge naiv oder haarklein in amerikanische Kontexte zu überführen – die fremde Welt darf ihre Fremdheit nicht einbüßen. Das Resultat ist ein Gewebe aus Orient und Okzident, wie man es selten zu hören bekommt. Aber auch solche Kunst führt ins Private, verweilt nicht bei abstrakten Landkartenideen. Zu der Zeit, als Tibbetts und Anderson an der Musik arbeiteten, war Steves Schwester schwer erkrankt, und die Famile spürte die Gegenwart des Todes. Man lebte in der Vorstelllung, eine geliebte Person bald zu Grabe tragen zu müssen. Und auch dieser Schmerz hat Eingang in diese leise intensive Musik gefunden. Nun, die Dinge nahmen eine Wendung zum Guten, aber etwas von dieser Zeit hat sich in den Zwischentönen niedergelassen, eine Art ungezwungene Einkehr und Nachdenklichkeit.


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